12 Millionen Deutsche von Diabetes betroffen – diese Therapien geben Hoffnung

Noch nie gab es so viele Menschen mit Diabetes Typ 1 und 2. Die Stoffwechselstörung stellt eine „globale Bedrohung der Menschheit“ dar, warnen die Vereinten Nationen. FOCUS Online liefert die wichtigsten neuen Fakten und erklärt, wie neue Behandlungswege die Krankheit besser therapierbar machen.

Mindestens sechs Millionen Deutsche leiden unter Diabetes und noch einmal so viele sind ebenfalls betroffen, ohne es zu wissen. Denn der bei Diabetes erhöhte Blutzuckerspiegel (Hyperglykämie) tut nicht weh, kann erst auf Dauer, wenn er nicht richtig behandelt wird, dramatische Folgen haben.

Diabetes kann langfristig, aber auch akut große Risiken bergen

Die Langzeitfolgen sind vor allem Gefäßschäden, etwa Schlaganfall und Herzinfarkt, Erblindung, Nierenversagen, aber auch Nervenschäden (Diabetische Neuropathie, diabetischer Fuß) und Störungen der Sexualfunktion. Andererseits besteht bei der Stoffwechselstörung die große Gefahr, dass potenziell lebensgefährliche Unterzuckerung (Hypoglykämie) auftritt. Dieses Risiko besteht vor allem bei Insulin-behandelten Patienten mit Diabetes, etwa durch körperliche Anstrengung, wenn eine Mahlzeit ausgelassen wurde oder sie Alkohol trinken.

Obwohl die Diabetes-Therapie ständig verbessert wurde, treten immer noch Folgeschäden auf. Nach 25 Jahren Diabetes ist statistisch gesehen jeder dritte Patient von Folgeschäden betroffen. Doch es gibt eine Reihe von neue Behandlungsmöglichkeiten, die die Lebensqualität deutlich verbessern und Folgekrankheiten verhindern oder zumindest hinauszögern und vermindern – und zwar speziell gegen Typ-1-Diabetes und gegen Typ-2.

Das ist aktuell über die beiden Diabetes-Formen bekannt:

Typ-1-Diabetes ist eine Autoimmunkrankheit, bei der das Immunsystem fälschlicherweise die Insulin-produzierenden Betazellen der Bauchspeicheldrüse angreift. Das Hormon Insulin hat unter anderem die Aufgabe, Zucker in die Körperzellen zu bringen und dort zu verstoffwechseln, damit der Nährstoff als Energie genutzt werden kann. Außerdem hält es die körpereigene Glukoseproduktion in der Leber im Zaum. Sind Betazellen zerstört, wird kein oder zu wenig Insulin freigesetzt und der Blutzuckerspiegel steigt dauerhaft an, mit den genannten Folgen für die Gesundheit.

Die Zerstörung der Betazellen, die auf die gesamte anatomische Struktur der Langerhans-Inseln übergreifen kann, führt zu einer Reaktion des Immunsystems mit Bildung von Antikörpern gegen Inselzellbestandteilen (Inselautoantikörper), die schon Jahre vor dem Krankheitsausbruch gemessen werden können. Dann sind jedoch bereits 90 Prozent der Inseln zerstört.

Die Stoffwechselstörung wird durch genetische Veranlagung plus Umweltfaktoren ausgelöst, meist tritt sie schon im Kindes- und Jugendlichenalter auf.

Typ-2-Diabetes entsteht dagegen meist erst im Erwachsenenalter. Übergewicht und Bewegungsmangel sind die Hauptrisikofaktoren für Typ-2-Diabetes. Denn Körperfett produziert Stoffe, die Zellen (vor allem in Muskel und Leber) immer weniger auf das Hormon Insulin reagieren lassen (Insulinresistenz). Der Blutzucker steigt auf Dauer an – wie bei Diabetes Typ 1, allerdings durch einen anderen Mechanismus. Weil immer mehr Kinder bereits viel zu viel auf die Waage bringen und ständig nur sitzen, verschiebt sich das Erkrankungsalter immer weiter Richtung Jugend. Gut 90 Prozent der Diabetiker leiden unter Typ-2-Diabetes.

„Typ-1- und Typ-2-Diabetes sind zwei verschiedene Krankheiten, bei Typ-1-Diabetes liegt klarer Insulinmangel vor, der ausgeglichen werden muss. Dabei ist das mit „Ersetzen“ von Insulin nicht so einfach. Zum Glück gibt es immer wieder neue Entwicklungen“, berichtet Michael Stumvoll, Direktor der Klinik und Poliklinik für Endokrinologie und Nephrologie an der Uniklinik Leipzig und Gründungsdirektor des Helmholtz-Instituts für Metabolismus-, Adipositas- und Gefäßforschung, kurz HI-MAG.

Blutzuckerkontrolle mit und ohne Stechhilfe

Voraussetzung für die optimale Behandlung von Typ1- sowie Typ-2-Diabetes ist eine möglichst gute Blutzuckerkontrolle, also mehrmals täglich durchgeführte Messungen, da die Werte durch Essen und Sport beeinflusst werden. Nach dem Essen steigt der Wert an, durch körperliche Bewegung sinkt er. Als normaler Blutzuckerwert gilt nüchtern unter 110 (möglichst über 54) bzw unter 140 Milligramm pro Deziliter (mg/dl) nach Glukosebelastung.

Neben der bekannten Selbstmessung mit einer Stechhilfe in Fingerbeere oder Ohrläppchen („blutig“, weil dafür ein Tröpfchen Blut nötig ist), setzen immer mehr Diabetiker auf kontinuierliches Glukosemonitoring (CGM, Continuous Glucose Monitoring) oder Flash-Glucose-Messung. Dabei misst eine kleine Sonde, die der Diabetiker für etwa zwei Wochen an und unter die Haut appliziert, den Glukosegehalt im Unterhautfettgewebe. Die Sonde sendet das Ergebnis an eine App auf das Smartphone des Patienten, so dass er ständig Kontrolle über seinen Blutzucker hat. Neue Modelle sehen zusätzlich vor, bei Unter- und Überzuckerung ein Signal zu geben.

Entsprechend den Mess-Ergebnissen werden Antidiabetika und Insulin dosiert – immer mit dem Ziel, Hyper- sowie Hypoglykamie zu vermeiden.

Therapie bei Typ1-Diabetes – Insulinbehandlung optimieren

Das Ziel jeder Diabetes-Therapie ist, das so genannte natürliche, perfekte, sekundengenaue Zusammenspiel von Insulinfreisetzung und -wirkung zu kontrollieren. Ingenieure versuchen, das sogenannte Closed-Loop-System des Menschen, möglichst gut technologisch nachzuahmen. „Das bedeutet eine geschlossene Schleife von Messen, entsprechend Insulin Freisetzen, Blutzucker verändern und wieder Messen nachzuahmen, was mit CGM, Designerinsulinen und Pumpensystemen versucht wird“, fasst der Diabetesexperte zusammen.

Herkömmliche Insulintherapie mit Spritze und Pumpe

Weil bei Typ-1-Diabetes die Betazellen der Bauchspeicheldrüse kein Insulin mehr herstellen, ist der Betroffene auf von außen zugeführtes Insulin angewiesen. Dabei gibt es langwirkende Insuline, die Basalinsuline, die der Diabetiker regelmäßig und praktisch Blutzucker-unabhängig anwendet, etwa morgens, sowie schnell- und kurzwirkende Insuline, die Analoginsuline. Sie werden vor oder zum Essen verabreicht.

Insulin wird vom Diabetiker als Injektion in eine Hautfalte, etwa am Bauch, gesetzt. Eine Alternative für das Spritzen ist die Insulinpumpe, die am Körper getragen wird. Dabei wird das Hormon über einen Katheter ins Unterhautfettgewebe verabreicht und der Organismus laufend mit Basalinsulin versorgt. „Die Pumpen können mit bis zu halbstündlich genau vorgegebenen basalen Flußgeschwindigkeiten programmiert werden.“, ergänzt der Professor.

Neue Option: Künstliche Bauchspeicheldrüse, Closed-Loop-System

Um den natürlichen Kreislauf des Zuckerstoffwechsels im Körper noch besser zu imitieren, wird inzwischen versucht, die Blutzuckermessung per Sensor mit der Insulinpumpe über einen kleinen, tragbaren Computer zu koppeln. „Das bedeutet, messen und intelligent Insulin verabreichen“, fasst Michael Stumvoll zusammen, warnt jedoch vor einem Risiko.

Denn aktuell könne man noch  nicht mit Gewissheit sagen, wie gut diese Systeme im täglichen Gebrauch und auf Dauer funktionierten, ob die Sonde verkleben könne und dann nicht mehr richtig messe. Bei aufkommenden Fehlern im System würde womöglich bei niedrigem Blutzucker weiter Insulin in den Körper pumpen und im schlimmsten Fall dadurch eine lebensgefährliche Unterzuckerung produziert. Zusätzlich müssen viele dieser Geräte per Hand regelmäßig re-kalibriert werden. Das bedeutet, der Patient muss doch wieder „blutig" messen und die Daten des Geräts abgleichen.

Transplantation von Inselzellen

Ein besonders ehrgeiziges Ziel der Forschung ist, die Bauchspeicheldrüse mit neuen Inselzellen auszustatten, damit der Körper wieder selbst Insulin bildet. „Das ist aber schon aufgrund der Verfügbarkeit von Spenderinseln sehr beeinträchtigt“, erklärt der Experte. Man braucht sehr viel (über)lebende Inseln für eine effektive Insulinsekretion. Die transplantierten Zellen halten einfach noch nicht lange, sind sehr empfindlich und funktionieren nicht so gut wie die eigenen.

„Für einen Empfänger wären Betazellen von bis zu zehn Spendern nötig“, sagt Michael Stumvoll. Diese sehr aufwändige Behandlung wird also nur in sehr seltenen Ausnahmefällen versucht, etwa bei Diabetikern, deren Blutzucker sich partout nicht einstellen lässt und ständig zwischen Hypo- und Hyperglykämie schwankt. Das Verfahren ist noch sehr experimentell und nur wenigen Zentren vorbehalten.

Insulin per Spray

Ein paar Jahre lang wurde als Neuheit ein inhalatives Insulin-Spray angeboten, das über einen Verwirbelungsapparat in Mund und Lunge aufgenommen wurde, also eingeatmet. „Inhalative Insuline haben sich aber nicht bewährt“, stellt Michael Stumvoll klar. Die Dosis lässt sich schlechter kontrollieren als eine subkutane Injektion. Außerdem sind hohe Dosen nötig, damit ausreichend Insulin über den Bronchialbaum im Blut ankommt. Diese lokal hohen Mengen könnten letztendlich auch Probleme wie ungewolltes Zellwachstum begünstigen.

Die gerne zitierte „Angst vor der Injektion“ (Needle-Phobie) hätten Diabetiker in der Regel nicht – für das viele Blutzuckermessen mit dem Ritzen in die Fingerbeere sei im Vergleich mit dem Insulinspritzen wesentlich mehr Überwindung nötig.

Typ-1-Diabetiker dürfen heute alles essen, doch das hat eine Schattenseite

Nicht zuletzt gehörte zur Diabetes-Therapie auch die Diät, mit striktem Zuckerverzicht und Einschränkung der Kohlenhydrate. So gab und gibt es immer noch entsprechende Produkte wie Diabetikerkuchen und -schokoladen. „Diese strengen Verbote gelten heute nicht mehr, der Typ-1-Diabetiker mit vollem Insulinersatz kann heute wie ein Stoffwechselgesunder essen, allerdings mit kleinen Einschränkungen bei den Kohlenhydraten.“

Doch dadurch gebe es heute sogenannte „Doppeldiabetiker“, warnt Michael Stumvoll. Das bedeutet, Typ-1-Diabetiker, die früher in der Regel eher schlank waren, werden durch zu viel Kohlenhydrate plus Insulin, das bekanntlich ein anaboles Hormon ist, übergewichtig und können damit zusätzlich Typ-2-Diabetes entwickeln.

Durch das Übergewicht kommt zu ihrem Insulinmangel Insulinresistenz dazu, es muss darum mehr Insulin gegeben werden, was zusätzlich wieder andere Probleme macht. „Das ist die Schattenseite der Liberalisierung, doch man möchte die Patienten ja nicht kasteien, sie sollen ein möglichst normales Leben führen“, erklärt der Experte. „Darum nimmt man das in Kauf und weist die Patienten eben klar darauf hin“.

Typ-2-Diabetes – „Heilung“ manchmal möglich, die wenigsten schaffen es

Ernährung spielt vor allem bei der Entstehung und auch Behandlung von Typ-2-Diabetes die wichtigste Rolle, zusammen mit körperlicher Aktivität. „Bewegung und Abnehmen würden bei Typ-2-Diabetes Wunder bewirken“, stellt der Diabetologe klar. Doch das funktioniere selten, unsere westliche Lebensweise deklariere Übergewicht inzwischen schon als ganz normal.

Wer gezielt abnimmt und Sport treibt, kann nämlich Typ-2-Diabetes auch wieder los werden – ohne Medikamente und Insulin anwenden zu müssen. Allerdings bleibt das Risiko, erneut Diabetes zu bekommen, ein Leben lang.

Wer Typ-2-Diabetes mit einer Lebensstiländerung nicht in den Griff bekommt, also die meisten Betroffenen, muss auf andere Therapien zurückgreifen. Dabei ist die Behandlung von Typ-1- und Typ-2-Diabetes teilweise ähnlich. Manche Typ-2-Diabetiker müssen auch Insulin spritzen. Bevor das nötig wird, gibt es jedoch eine ganze Reihe von Antidiabetika, die bei Typ-1 übrigens nicht zum Einsatz kommen. Sie werden oral oder als Injektion verabreicht, etwa Metformin, DPP-4-Hemmer, Sulfonylharnstoffe oder GLP-1-Analoga wie Liraglutide.

Clevere neue Antidiabetika leiten Zucker aus dem Körper

Erst vor Kurzem wurde eine neue Gruppe von Antidiabetika in Deutschland zugelassen, die Natrium-Glukose-Transporter-2-Hemmer, kurz SGLT2-Hemmer. Sie schränken diesen Transporter in den Nieren ein. „Die Nieren geben dadurch überschüssigen Zucker nicht mehr ins Blut ab, sondern leiten ihn in den Urin und damit aus dem Körper“, fasst der Experte den Wirkmechanismus der neuen Arzneimittel zusammen. Auf diese Weise sinkt der Blutzuckerspiegel. Zusätzlich verliert der Körper Kalorien, Übergewicht baut sich also ab.

SGLT2-Hemmer haben unbestritten viele Vorteile, machen aber nur Sinn, wenn die Nierenfunktion nicht eingeschränkt ist. Außerdem kann die Anreicherung von Zucker im Harn Unterleibsinfektionen mit Bakterien und Pilzen begünstigen. Als Nebenwirkungen können deshalb Blasenentzündung und Scheidenpilz auftreten.

Drei neue Wirkstoffe bei Typ-2-Diabetes im Test

Es gibt noch eine ganze Reihe von anderen Neuentwicklungen, die sich derzeit in der Pipeline befinden.

1. Kombitherapie aus Appetitzügler und Energiebooster

Um gezielt Übergewicht und Diabetes anzugehen, wird derzeit eine Kombitherapie (Icilin plus Dimethylphenylpiperazin DMPP) untersucht. Dabei soll gezielt das braune Körperfett aktiviert werden, dass bei Kälte Energie verbrennt. Zusätzlich werden im Gehirn Rezeptoren angesprochen, die Sättigung vermitteln. „Der Ansatz ist brillant“, urteilt Michael Stumvoll. „Da muss man erstmal draufkommen“. Allerdings handelt es sich erst um präklinische Untersuchungen und man weiß noch nicht, ob das beim Menschen auch funktioniert. Nebenwirkungen wie Kältegefühl oder auch zentralnervöse Symptome wären denkbar.

Teilweise ähnliche Ansätze gab es übrigens schon früher, etwa mit den Wirkstoff Rimonabant. Dieser Antagonist des Cannabinoid-Typ-1-Rezeptors im Gehirn sollte den Appetit zügeln. Doch es traten Nebenwirkungen auf wie Depressionen. Das Medikament musste vom Markt genommen werden.

2. Antidepressivum zum Abnehmen

Auch das Antidepressivum Lorcaserin wird derzeit daraufhin untersucht, ob es bei Typ-2-Diabetes das Gewicht reduziert. In den USA ist der Wirkstoff bereits zugelassen. Dabei handelt es sich um einen besonderen Serotoninantagonisten. „Das Nutzen-Risiko-Profil dürfte aber für die europäische Zulassung nicht ausreichen“, vermutet der Experte.

Denn in der Studie haben die Probanden nur rund vier Kilogramm pro Jahr abgenommen – eine eher geringe Menge für Adipöse mit einem Körpergewicht von 100 Kilogramm und mehr. „Die sogenannten Endpunkte, also die Folgekrankheiten von Diabetes wie Herzinfarkt Schlaganfall, diabetischer Fuß, waren zwar nicht häufiger, das Medikament also diesbezüglich sicher, aber konnten leider auch nicht verhindert werden“, stellt der Wissenschaftler klar.

3. Modifizierte Darm-Hormone („Twincretine“) senken Blutzucker und Gewicht

Ein erfolgversprechender Ansatz sind duale Inkretinagonisten (GIP/GLP-1-, oder GLP-1/Glucagon-Agonisten). Sie ahmen die Wirkung von zwei Inkretinen nach und haben erstaunliche Wirkungen. Inkretine sind Hormone, die der Darm bildet und die unter anderem die Produktion von Insulin anregen. „Die Daten aus der aktuellen Studie zu Blutzucker, Gewicht und Nebenwirkungen sehen gut aus“, sagt der Experte. Nach sechs Monaten hatten die Probanden gut elf Kilogramm abgenommen, der Blutzuckerspiegel sank und Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen und Durchfall waren akzeptabel. Diese neuen injizierbaren Antidiabetika dürften in den nächsten Jahren die Zulassung erhalten.

Mehr Informationen:

Diabetesinformationsdienst München

Helmholtz-Institut für Metabolismus, Adipositas und Gefäßforschung

Deutsches Zentrum für Diabetesforschung

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