Blutige Angelegenheit

Der Junge ist acht Monate alt, als die Probleme beginnen: Seine rechte Gesichtshälfte ist verzogen. Die Eltern bringen ihn in ein lokales Krankenhaus in der chinesischen Provinz Sichuan.

Die Ärzte dort erkennen eine teilweise Lähmung der Gesichtsnerven, der sie mit Akupunktur beikommen wollen. Eine Woche lang wird das Baby so behandelt, doch sein Zustand bessert sich nicht. Rund drei Wochen später bekommt der Junge Fieber.

Immunzellen im Nervenwasser

Nun führen die Mediziner ausführlichere Tests durch, unter anderen untersuchen sie Blut und Nervenwasser, den sogenannten Liquor, des kleinen Patienten.

In seinem Blut schwimmen ungewöhnlich viele weiße Blutkörperchen, auch das sogenannte C-reaktive Protein ist erhöht. Beides kann auf eine durch Bakterien ausgelöste Entzündung hindeuten, allerdings auch andere Ursachen haben. Zusätzlich ist der Hämoglobinwert etwas zu niedrig. Das ist der rote Blutfarbstoff, der den Sauerstofftransport im Blut ermöglicht.

Im Liquor finden die Ärzte ebenfalls große Mengen weißer Blutkörperchen. Bei Gesunden ist der Liquor nahezu frei von diesen Zellen. Auch dies kann auf einen bakteriellen Infekt hinweisen. Tests auf diverse Viren schlagen nicht an, darunter Epstein-Barr, Röteln und Herpes. Eine Magnetresonanztomografie (MRT) des Gehirns zeigt ebenfalls keine Auffälligkeiten.

Zwar wachsen in angelegten Kulturen im Labor keine Bakterien, dennoch vermuten die Mediziner, dass das Baby eine von Bakterien verursachte Hirnhautentzündung hat. Diese ist lebensgefährlich, schnelles Handeln ist daher nötig: Sie geben dem Kind mehrere Antibiotika, um die Bakterien zu eliminieren.

Antibiotika schlagen nicht richtig an

Die folgenden zwei Wochen erhält das Baby verschiedene Wirkstoffe. Zwischenzeitig entwickelt es einen starken Ausschlag, der nur mithilfe eines entzündungshemmenden Mittels wieder abklingt. Trotz der Antibiotikagabe hat der Junge weiter eine erhöhte Körpertemperatur. Eine erneute Analyse des Liquors zeigt, dass die Zellzahl darin zwar gesunken, aber immer noch viel zu hoch ist.

So wird das Kind schließlich in eine Klinik der Universität Sichuan verlegt, wo sich Liquan Wang und Kollegen des kleinen Patienten annehmen, die später im Fachblatt „Medicine“ über den Fall berichten. Sie untersuchen das Baby gründlich. Erneut suchen sie nach Spuren diverser Viren, die für die Krankheit verantwortlich sein könnten – doch sie werden nicht fündig. Tests auf Bakterien sind ebenfalls negativ.

Beim Abhören der Lungen fällt ihnen ein Rasseln auf. Auf der linken Seite des Halses ertasten die Ärzte vergrößerte Lymphknoten. Die Zahl weißer Blutkörperchen in Blut und Liquor ist immer noch zu hoch. Und: Im MRT zeigen sich im Gehirn jetzt einige krankhafte Veränderungen.

Die Ärzte geben dem Kind zunächst weiter Antibiotika. Doch sie beginnen an der Diagnose zu zweifeln, laut der eine von Bakterien ausgelöste Hirnhautentzündung vorliegt.

Schließlich analysieren sie die weißen Blutkörperchen des Patienten genauer und untersuchen zusätzlich eine Knochenmarkprobe. Dabei zeigt sich, dass nur bestimmte Arten der weißen Blutzellen in viel zu großer Zahl vorliegen und dass diese Zellen größtenteils nicht ganz ausgereift sind.

Traurige Gewissheit

Das Baby leidet an einer sehr seltenen Form von Blutkrebs, einer sogenannten akuten Monozyten-Leukämie. Sein Körper produziert unkontrolliert diese unreifen Zellen. Weil das Knochenmark damit stark beschäftigt ist, sinkt parallel die Produktion von roten Blutzellen sowie von den für die Blutgerinnung nötigen Blutplättchen.

Die Zellen haben offensichtlich schon im zentralen Nervensystem Schaden angerichtet, was die Veränderungen im Gehirn und die Gesichtslähmung des Kindes erklären kann.

Bei einer akuten Leukämie ist ein rasches Eingreifen besonders wichtig. Rechtzeitig erkannt, ist es möglich, den Blutkrebs mit einer Chemotherapie oder mit einer Knochenmarktransplantation erfolgreich zu bekämpfen. Die Eltern entscheiden sich jedoch gegen diese Behandlungen. Sie verlassen mit dem Baby die Klinik.

Die Ärzte schildern in ihrem Fallbericht nicht die Beweggründe der Familie. Möglich ist, dass die Heilungschance durch die verzögerte Diagnose schon so gering war, dass sie die wenige verbleibende Zeit mit ihrem Kind lieber jenseits des Krankenhauses erleben wollten.

Im Nachgang suchen die Mediziner in der Fachliteratur nach ähnlichen Fällen und finden einige Berichte, in denen Kinder mit einer Leukämie unter einer Gesichtslähmung litten.

Zwar hat so eine Lähmung in den allermeisten Fälle eine andere Ursache und wird nicht von Krebs ausgelöst. Dennoch sollten Ärzte an eine mögliche Leukämie denken, wenn sie die wahrscheinlicheren Gründe ausgeschlossen haben, schreiben die chinesischen Mediziner.

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