„Mütter trinken heimlich“

Dieser Artikel erschien erstmals am 18. Mai 2016

„Mein Auto habe ich versoffen“, sagt Gabi Schneider*. Sie steht in der Küche ihrer Wohnung in Hamburg-Altona und gießt heißes Wasser in einen Kaffeefilter. Eine schlanke Frau Ende 40, der man einen solchen Satz nicht zutrauen würde. Ihre langen blonden Haare hat sie zu einem Zopf geflochten, ihre Lippen zartrosa geschminkt, die Augenbrauen sorgfältig gezupft.

Die Wohnung ist geschmackvoll eingerichtet, im Ess- und Wohnzimmer steht ein großer massiver Holztisch, darum sechs Stühle. Die Terrassentür führt in den Garten im Innenhof, dort will sie später mit einer Freundin grillen.

Nichts verrät, dass hier eine Frau lebt, der über Jahre nichts wichtiger war als das nächste Bier, auch das eigene Kind nicht. „Ich habe meiner Tochter Schlimmes angetan“, sagt Schneider.

Zehn bis zwölf große Flaschen Bier, also fünf bis sechs Liter, hat sie jeden Tag getrunken. Das war in den Jahren 2011 bis 2014. Die Tochter war zwölf, als die Mutter in die Sucht abrutschte, der Sohn 24 und bereits ausgezogen.

Schleichend in die Sucht

Schätzungen zufolge haben ungefähr 2,7 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland mindestens einen Elternteil mit Alkoholstörung. In einer von sieben Familien trinken Mutter, Vater oder beide zeitweise, in einer von zwölf dauerhaft. Dass dabei nicht nur ökonomisch schwache Mütter zur Flasche greifen, zeigen unter anderem Statistiken zum Alkoholkonsum während der Schwangerschaft.

Laut einer großen Studie des Robert Koch-Instituts von 2007 trinken im Vergleich zur Unterschicht mehr als doppelt so viele gut gestellte Frauen, während in ihrem Bauch ein Baby heranwächst. Insgesamt berichteten 14 Prozent, etwas getrunken zu haben, wenn auch selten. Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus.

Schneiders Weg in die Sucht begann harmlos. Nachdem ihre Eltern früh gestorben waren – ihre Mutter war Alkoholikerin – und sie teils im Heim aufgewachsen war, schien das Glück zu ihr zurückzukehren.

Als junge Frau arbeitete sie als Bürokauffrau in einem Autohaus, ihr Mann kam aus gutem Hause, zwei Kinder, eine Familie wie im Bilderbuch. „Damals spielte Alkohol noch keine Rolle“, sagt sie.

Bier und Sekt besorgte sie nur, wenn Freunde zu Besuch kamen. Später hatte sie die Getränke auch auf Vorrat im Haus, für den Fall, dass jemand spontan vorbeikam. Ab und an machte sie sich allein eine Flasche auf und trank ein Glas oder zwei, mit der Zeit wurden es mehr. Schleichend ersetzten Bier und Sekt Getränke wie Wasser, Tee oder Kaffee.

Über zehn Jahre entwickelte sich Schneider zur Gewohnheitstrinkerin. In dieser Zeit veränderte sich in ihrem Leben auch sonst einiges. Ihr Mann verließ die Familie, ein neuer kam. Doch erst Jahre später, es war 2011 und sie inzwischen 44, stürzten sie zwei Schicksalsschläge in die Sucht.

„Ich habe mein Elend genossen“

Ihre neue Beziehung zerbrach. „Dieser Mann war meine große Liebe“, sagt sie heute. Zudem wurde der befristete Arbeitsvertrag bei einem sozialen Träger, für den sie inzwischen arbeitete, nicht verlängert. Vergeblich suchte sie eine neue Stelle. In dieser Zeit ging sie viel aus, traf sich mit Freundinnen, suchte Ablenkung, trank.

„Ich habe es genossen, voller Selbstmitleid den ganzen Tag betrunken auf meinem Sofa zu liegen“, erzählt sie. Je mehr Alkohol floss, desto mehr zog sie sich zurück. Kam doch Besuch, bot sie direkt etwas zu trinken an, damit man ihre Fahne nicht so leicht roch. Am Tag geleerte Sixpacks kaufte Schneider nach, Leergut brachte sie zum Container. „Mütter, Frauen allgemein trinken heimlich“, sagt sie. „Und Alkoholiker sind die besten Lügner, die man sich nur vorstellen kann.“

Selbst auf dem Höhepunkt der Sucht hielt Schneider die Wohnung sauber, kochte, kaufte ein. „Ich habe meiner Tochter das Frühstück ans Bett gebracht“, erzählt sie. Wenn Schulfreundinnen zu Besuch kamen, tanzten sie im Wohnzimmer. „Alle waren begeistert, was Clara* für eine tolle Mutter hat.“ Die heile Fassade war die Voraussetzung dafür, dass sie ungestört trinken konnte. Doch waren Mutter und Tochter allein, zeigte sich Schneiders Unberechenbarkeit.

Liebesentzug und Psychoterror

„Meiner Tochter habe ich mit voller Absicht Liebe entzogen“, erzählt sie. Um ungestört trinken zu können, verwehrte die Mutter ihrer Tochter gemeinsame Koch- und Fernsehabende. Gutenachtküsse habe sie auf die Stirn verlegt, damit Clara ihre Fahne nicht so stark roch.

Manchmal sei sie völlig unkontrolliert gewesen, habe geschrien und ihr Kind niedergemacht. „Ich habe ihr keinen Raum gelassen, ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln“, sagt Schneider. Handgreiflich sei sie nie geworden.

Die meiste Zeit spricht Schneider ruhig und kontrolliert über ihre Sucht. Doch geht es um ihre Tochter, redet sie schneller, die Augen wandern, sie wendet sich ab, um die Tränen zurückzuhalten. „Am meisten leiden die Kinder unter der Sucht“, das ist ihr heute klar.

Noch vor gut zwei Jahren konnte sie sich das nicht so leicht eingestehen. Sie wog 20 Kilo mehr als nach der Therapie, war extrem kurzatmig und hatte häufig Magenschmerzen. Dass das mit dem Alkohol zu tun haben könnte, verdrängte sie. Für alles fand sie eine Erklärung. „Ging mir die Puste aus, lag das eben am Wetter, tat der Bauch weh, hatte ich wohl zu wenig gegessen.“

„Ich wollte noch auf der Hochzeit meiner Kinder tanzen“

Statt sich Hilfe zu suchen, betäubte Schneider auch den körperlichen Schmerz mit Alkohol – bis zu jenem Tag Anfang 2014. Weil ihre Tochter ein Ziehen am Bein verspürte, ging sie mit ihr zum Hausarzt. Die Praxis war vergleichsweise leer. Spontan erzählte Schneider dem Mediziner von ihren Beschwerden, den Alkohol verschwieg sie.

Der Arzt diagnostizierte ein Magengeschwür, eine Fettleber, die Vorstufe zur Leberzirrhose, und beginnenden Diabetes, weil die Bauchspeicheldrüse angegriffen war. Seinen Alkoholismusverdacht verschwieg er zunächst, machte Schneider aber klar, dass sie kurz davor stand, ihren Körper irreparabel zu schädigen.

Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen sterben in Deutschland etwa 74.000 Menschen pro Jahr frühzeitig an den Folgen übermäßigen Alkoholkonsums, häufig in Kombination mit Rauchen. Gefährdet sind nicht nur die 1,8 Millionen Süchtigen und 1,6 Millionen Vieltrinker. Im Schnitt nimmt einer von zehn Deutschen potenziell gesundheitsschädliche Mengen Alkohol auf.

„Ich wollte noch auf der Hochzeit meiner Kinder tanzen und meine Enkelkinder im Arm halten“, sagt Schneider. Sie gestand ihrem Arzt, dass sie trinkt. Es folgten ein zweiwöchiger Entzug und vier Monate Therapie in einer Suchtklinik.

Tochter Clara kam in einer betreuten Wohngemeinschaft unter. Ihren Freundinnen erzählte sie, ihre Mutter habe Krebs. Sie schämte sich. „Als ich das erfahren habe, hat es mir das Herz zerrissen“, sagt Schneider. Bis heute ist die Tochter, nun 17 Jahre alt, nicht zu ihr zurückgezogen, sie geht inzwischen aber offen mit der Krankheit ihrer Mutter um.

Absturz mit Folgen

Ungefähr ein Jahr lang blieb Schneider nach dem ersten Entzug trocken. „Als ich aus der Klinik kam, war ich wahnsinnig motiviert, aber auch überheblich“, erzählt sie. Doch der Alltag ohne Arbeit in einem Umfeld voller Berufstätiger und die Schuldgefühle überforderten sie.

Eines Abends sei sie zur Tankstelle gegangen, nur einmal wollte sie sich „richtig abschießen“. Schneider fiel in die Sucht zurück. 15 Bier trank sie jetzt jeden Tag. Selbst wenn sie sich abends fest vornahm, ab sofort aufzuhören, gelang es ihr nicht. „Ich bin um 4 Uhr nachts zitternd aufgewacht und habe mir die nächste Flasche aufgemacht.“

Freunden gegenüber stritt sie ab, wieder zu trinken, ging nicht mehr an die Tür und nicht mehr ans Telefon. Sie schämte sich. Das Gefühl, versagt zu haben, überwältigte sie mehr denn je. Im März 2015 fand sie sich betrunken, heulend vor dem Computer wieder. Sie schrieb eine Mail an den Chefarzt ihrer Suchtklinik. Der ermuntert sie, sich erneut Hilfe zu holen. „Diese Mail zu schreiben, das war einer der wichtigsten Momente in meinem Leben.“

Zurück in der Klinik erfuhr Schneider, dass drei Bekannte aus ihrem ersten Entzug bereits tot waren, darunter eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern. „Meine Krankheit hat mich Demut gelehrt“, sagt sie.

Eine in der zweiten Therapie gefertigte Specksteinfigur erinnert Schneider an ihr Gefühl nach dem Rückfall

Beim zweiten Klinikaufenthalt lernte Schneider, nachsichtiger mit sich selbst zu sein und besser mit den Schuldgefühlen ihren Kindern gegenüber umzugehen. „Ich habe verstanden, dass ich die Vergangenheit loslassen muss, wenn ich weiterleben will.“ Das Einzige, was sie noch für ihre Kinder tun könne, sei, gesund zu bleiben.

Seit dem Rückfall ist Schneider heute mehr als ein Jahr trocken. Ihr Körper hat sich von den durch Alkohol verursachten Schäden weitestgehend erholt. „Ich bin sehr dankbar dafür“, sagt sie. 30 Stunden in der Woche arbeitet sie seit Mai als Hausdame in einem Hotel. Regelmäßig geht sie zur Nachbetreuung für Suchtkranke, später will sie sich eine Selbsthilfegruppe suchen.

Den Kontakt zu alten Trinkbekanntschaften hat sie abgebrochen, den zu echten Freunden pflegt sie. Das Verhältnis zu ihrer Tochter sei sehr gut, sagt Schneider, wenn auch eher freundschaftlich als mütterlich. Sie telefonieren regelmäßig. Der Sohn macht sie in ein paar Monaten zur Großmutter.

Unter ein Regal im Badezimmer hat Schneider sich einen Erinnerungszettel geklemmt: „Sorge dafür, dass es dir gutgeht“, steht darauf.

*Name von der Redaktion geändert


Trinke ich zu viel? Wenn Ihnen Ihre Trinkgewohnheiten Sorgen bereiten, sprechen Sie mit Ihrem Hausarzt. Suchtberatungsstellen helfen ebenfalls. Einen Ansprechpartner in Ihrer Nähe finden Sie über das Verzeichnis der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (hier) oder die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (hier).

Betroffene und ihre Kinder finden zudem Informationen auf der Seite eltern-sucht.de oder unter elternundsucht.ch. Gezielte Informationen für Frauen stellt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hier zur Verfügung.


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