Sollte die Politik mehr auf Prävention setzen?



Das deutsche Gesundheitssystem ist mit das teuerste. Dennoch sind die Menschen nicht gesünder als in anderen Ländern. Für Prävention wird hingegen kaum Geld ausgegeben. Warum sich das ändern sollte

Ein Herz für Prävention? Das trifft für das deutsche Gesundheitssystem momentan nicht zu – auch wenn sich damit viel Geld sparen ließe

Dreimal so häufig wie die Schweden, fast doppelt so oft wie alle EU-Bürger im Schnitt: Rund zehn Mal im Jahr gehen deutsche Patienten zum Arzt, ergab ein Vergleich der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Trotzdem sterben die Bundesbürger im Schnitt früher als beispielsweise die Skandinavier und verleben insgesamt weniger gesunde Jahre. Fast 80 Prozent der schwedischen Erwachsenen schätzen ihr Befinden als sehr gut oder gut ein, in Deutschland tun das nur knapp zwei Drittel. 

Gleichzeitig ist unser Gesundheitssystem eines der teuersten weltweit. 2017 waren die Kosten hoch wie nie: Auf fast 375 Milliarden Euro schätzt das Bundesamt für Statistik alle Gesundheitsausgaben von Staat, Privathaushalten und Unternehmen. Das waren erstmals mehr als eine Milliarde Euro pro Tag und 11,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Alle Staaten außer den USA und der Schweiz geben anteilig weniger aus.

Kaum Ausgaben für Prävention in unserem Gesundheitswesen

"Angebot und Verfügbarkeit sind im internationalen Vergleich in der Bundesrepublik sehr gut", sagt OECD-Gesundheitsanalyst Michael Müller. Gesünder sind die Deutschen aber deshalb nicht. Wie ließe sich das ändern? Wie ließen sich Ausgaben senken und die Ergebnisse verbessern? Für zahlreiche Experten ist klar: Es muss mehr getan werden, um Krankheiten zu verhindern. Aktuell entfallen le­dig­lich 3,3 Prozent aller Gesundheitsausgaben in Deutschland auf Vorbeugung.

"Rauchen, Fettleibigkeit und Alkohol verursachen Jahr für Jahr mehrere Dutzend Milliarden Folgekosten. Präventionsansätze sind ein riesiger Hebel, um diese Kosten zu senken", sagt etwa Dr. Tobias Effertz vom Institut für Recht der Wirtschaft in Hamburg. Und Professor Ulrich John, Direktor des Instituts für Sozialmedizin und Prävention der Uni Greifswald, erklärt: "Unsere durchschnittliche Lebensdauer erhöht sich alle vier, fünf Jahre um ein Jahr. Mit erfolgreichen Maßnahmen gegen Rauchen, Trinken, ungesunde Ernährung und zu wenig Bewegung würde sich diese Zahl verdoppeln."

Alkohol, Rauchen, Fast Food: Deutsche leben zu ungesund

Doch viele Bundesbürger leben konsequent unvernünftig. Elf Liter reinen Alkohol trinkt der Durchschnittsdeutsche pro Jahr – zwei Liter mehr als in allen OECD-Ländern im Schnitt. Über 20 Prozent der Erwachsenen rauchen, fünf Prozent mehr als in Schweden. Dem letzten Report "Gesundheit in Deutschland" des Robert-Koch-Instituts zufolge essen die Deutschen zunehmend Burger, Fertigpizzen und anderes Fast Food. Dazu kommt: Nicht einmal die Hälfte der Erwachsenen treibt so viel Sport, wie es etwa die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt.

Über 50 Prozent der Bundesbürger ist übergewichtig, fast ein Viertel fettleibig. Auch dies sind mit die höchsten Werte im Vergleich zu anderen Staaten. Tendenz steigend. Die Folgen dieses Lebensstils: Fast sieben Millionen Deutsche sind zuckerkrank, bis zu 30 Millionen kämpfen mit hohem Blutdruck. "Bei Antidiabetika und Blutdrucksenkern gehört Deutschland zu den internationalen Top-Usern", sagt OECD-Experte Müller. Die meisten Bundesbürger sterben an einer chronischen Krankheit – häufig Leiden, die man durch präventive Maßnahmen verhindern oder zumindest hinauszögern kann.

Im Jahr 2015 wurden hierzulande 450 000 Menschen wegen der Folgen des Rauchens in einem Krankenhaus behandelt. Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems sind Todesursache Nummer eins und verursachten laut Statistischem Bundesamt allein 2015 Gesundheitsausgaben von rund 46 Milliarden Euro. Wissenschaftler der Uni Hamburg beziffern die Folgekosten von Rauchen, Trinken, ungesunder Ernährung und mangelnder Bewegung gar auf 180 Milliarden Euro pro Jahr. "Eine sehr grobe Hochrechnung", urteilt Professor Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen. "Aber hilfreich, um die Diskussion anzuregen."

Politik oder Bürger: Wer ist in der Verantwortung?

Sozialmediziner Ulrich John und andere Präventionsexperten halten es für eine Fehlentwicklung, dass über 90 Prozent aller Ausgaben in unserem Gesundheitssystem auf die Versorgung bereits Erkrankter abzielen. Fachleute predigen schon seit Jahren das immense Potenzial von Prävention und betonen dabei unter anderem, wie wichtig die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung sei. Gerade bildungsferne Gruppen seien am stärksten von chronischen Krankheiten betroffen. "Damit schiebt man den Patienten den Schwarzen Peter zu", kritisiert Gesundheitsforscher Hardy Müller vom Wissenschaftlichen Institut der Techniker Krankenkasse.

Wirtschaftsexperte Effertz sieht dagegen vor allem den Gesetzgeber in der Verantwortung: "Zahlreiche Studien belegen: Nur durch höhere Steuern, weniger durch Informa­tion, wird der Konsum von Tabak, Alkohol und ungesunden Lebensmitteln effektiv gesenkt." Die Kritik, damit würde man die Menschen bevormunden und in ihrer Freiheit beschneiden, lässt Effertz nicht gelten. Nur auf diese Weise würden die Folgekosten durch spätere Erkrankungen fair eingepreist. Dass diese Rechnung aufgehen kann, zeigt der Blick in andere Länder.

In skandinavischen Ländern wirken politische Maßnahmen

"Schweden, Norwegen und Finnland gehen seit Jahrzehnten besonders aktiv gegen Tabak und Alkohol vor", berichtet Public-Health-Spezialist Ulrich John. Schnaps ist teuer, Bier und Wein gibt es nicht im Supermarkt und auch nicht rund um die Uhr an Tankstellen, Hochprozentiges und Zigaretten dürfen nur sehr eingeschränkt beworben werden. Der Konsum ist seither massiv gesunken. Studien zufolge wirkt sich ein sinkender Raucher-Anteil sehr positiv auf die Herz- und Gefäßgesundheit der Bevölkerung aus. "Die Erfolgsgeschichten sind alle bekannt", sagt Effertz.

Doch bislang lehnen deutsche Politiker Steuererhöhungen oder eine weitere Einschränkung der Verfügbarkeit von Nikotin und Alkohol ab. Inzwischen ist Deutschland das einzige EU-Land, das noch Außenwerbung für Tabakprodukte erlaubt. Auch viele Bürger nehmen die Regierung in die Pflicht. In einer repräsentativen GfK-Umfrage im Auftrag der Apotheken Umschau gaben fast 90 Prozent den Politikern die Schuld für steigende Gesundheitskosten. Die Höhe ihrer Krankenversicherungsbeiträge halten mehr als 44 Prozent der Deutschen inzwischen für unangemessen.   

Gesundheitsversorgung: Deutsche genießen viele Vorzüge

Gleichzeitig sind die Ansprüche von Versicherten oft hoch. Über die Hälfte gab in der Umfrage an, alternative Heilmethoden wie Homöopathie oder Akupunktur nicht komplett selbst zahlen zu wollen, um dadurch Kosten zu sparen. Fast 77 Prozent würden nicht auf innovative und teure Therapien verzichten wollen, fast 90 Prozent nicht auf ihre freie Arztwahl. Dabei ist Letztere eine Leistung, die Patienten in anderen europäischen Ländern meist nicht oder nur eingeschränkt erhalten.  

Generell genießen die Deutschen viele Vorzüge bei der Gesundheitsversorgung. So dürfen sie bei manchen planbaren Eingriffen eine zweite Expertenmeinung einholen. Laut OECD müssen nur wenige Patienten aus finanziellen Gründen auf eine notwendige Behandlung verzichten. Und mit acht Klinikbetten pro 1000 Einwohner liegt Deutschland 70 Prozent über dem OECD-Schnitt. Aber einige dieser vermeintlichen Vorteile werten Experten kritisch.

Fallpauschalen führen zu unnötigen Operationen und Therapien

"Die Krankenhäuser stellen eine Infra­struktur dar, die dazu führt, dass sie ausgiebig genutzt wird", sagt OECD-Analyst Müller. So würden kleinere Eingriffe wie eine Mandel-OP in anderen Ländern erfolgreich ambulant durchgeführt. "In Deutschland passiert das meist stationär", sagt Müller. Zudem sei die Zahl der Klinikeinweisungen für einige chronische Krankheiten höher als in vielen anderen Staaten, etwa für Diabetes. Generell könnten OPs und Therapien also wegen wirtschaftlicher Anreize durchgeführt werden – und nicht, weil sie medizinisch notwendig sind. Will eine Klinik rentabel arbeiten, zählen hohe Patientenzahlen.

"Seit Behandlungen mit Fallpauschalen abgerechnet werden, leidet die Qualität medizinischer Versorgung zum Teil erheblich", erklärt Ulrich John. Mit der Ökonomisierung medizinischer Leistungen habe man sich verkalkuliert. Systematische Fehlanreize belohnen diejenigen Ärzte, die viele Behandlungen durchführen – also nicht unbedingt jene, die den Bedürfnissen des Patienten wirklich gerecht werden, sagt auch Professor Gian Dome­nico Borasio. Er hat das Interdiszipli­näre Zentrum für Palliativmedizin an der Universität München mit aufgebaut und leitet heute den Lehrstuhl für Palliativmedizin an der Universität Lausanne.        

Ein Drittel der Kosten fallen am Lebensende an

Diese Einschätzung stützt ein Ergebnis der Apotheken Umschau-Umfrage. Fast 40 Prozent der Befragten gaben an: "Ich hatte schon einmal das Gefühl, dass eine mir angebotene medizinische Leistung völlig überflüssig war." Eine Tendenz zur Überversorgung, die laut Borasio besonders am Lebensende deutlich wird: "Etwa ein Drittel aller Kosten werden in den letzten zwei, drei Lebensjahren ausgegeben. Das sind zwischen 40 und 60 Milliarden Euro pro Jahr." Ein Großteil davon sei seiner Meinung nach Übertherapie.

Ein gutes Beispiel dafür sind laut Borasio Krebspatienten. Viele Chemotherapien würden deren Leben nur um wenige Wochen verlängern– schlimmstenfalls begleitet von heftigen Nebenwirkungen. Sollte eine Behandlung durchgeführt werden, wenn sie sehr wahrscheinlich Leiden nur verlängert? "Palliativmedizin stellt die unbequeme Frage, ob man alles machen sollte, nur weil man es kann", sagt Borasio. 

Steigende Kosten bei medikamentösen Tumortherapien

Die Kosten für Tumortherapien sind zuletzt drastisch gestiegen, vor allem weil innovative Behandlungen oft extrem teuer sind. Während eine medikamentöse Behandlung 2011 im Schnitt pro Patient 4686 Euro gekostet hat, waren es 2015 schon 6458 Euro. Eine Kostensteigerung von über 40 Prozent, wie der Arzneimittelreport der Krankenkasse Barmer berechnet. Die Preise medikamentöser – und sehr erfolgreicher – Hautkrebstherapien haben sich sogar verachtfacht. Im Sinne des Patienten Pharmahersteller erklären solche Kostenexplosionen mit ihren hohen Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Kritiker halten sie für Preistreiberei auf Kosten des gesamten Gesundheitswesens und der Kranken.

"Eine auf den Patienten hörende Medizin wäre automatisch ressourcensparender", sagt Palliativmediziner Borasio. Eine auf die Wissenschaft hörende Politik wäre es auch. In beiden Fällen profitierten die Versicherten – auch finanziell. Effertz: "Mehr Prävention würde eine dreifache Dividende bringen: eine gesündere Bevölkerung, höhere Produktivität, höhere Steuereinnahmen. Und am Ende können potenziell ­sogar noch die Krankenkassenbeiträge gesenkt werden."

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