Die Kritik prasselt weiter auf Anders Tegnell ein – doch er bleibt störrisch

War das die richtige Strategie? Dieser Frage musste sich der schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell in einer Sonderausgabe der Sendung "Agenda" im schwedisch öffentlich-rechtlichen Fernsehen SVT am Sonntag stellen. Thema: der viel diskutierte und viel beachtete schwedische Sonderweg in der Corona-Pandemie. Auch Ministerpräsident Stefan Löfven und Gesundheitsministerin Lena Hallengren wurden in der Sendung von den beiden Moderatorinnen ins Kreuzverhör genommen.

Schweden fuhr in der Pandemie bisher einen vergleichsweise lockereren Kurs, mit weniger Schließungen, keiner Maskenpflicht und mehr Empfehlungen an die Bürgerinnen und Bürger. Dafür hat das Land im Vergleich zu seinen skandinavischen Nachbarn deutlich höhere Corona-Zahlen: Seit Beginn der Pandemie wurden mehr als 533.000 Infektionen nachgewiesen, mehr als 10.500 Menschen sind an den Folgen von Covid-19 gestorben – bei einer Einwohnerzahl von rund zehn Millionen Menschen. Der Großteil der Verstorbenen ist 70 Jahre oder älter. 

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Epidemiologe verteidigt sich gegen Kritik von Vorgängerin 

Tegnell verteidigte den Kurs, den er als Chef der schwedischen Gesundheitsbehörde dem Land empfiehlt. "Unsere Strategie war es, die Infektion so langsam wie möglich und auf einem möglichst niedrigen Niveau zu halten. Wir haben so weit wie möglich (die Infektionsausbreitung) verlangsamt, ohne dass dies zu große Konsequenzen für beispielsweise die Schule hat." Seit dem 10. Januar gilt ein neues Pandemie-Gesetz in Schweden, dass der Regierung mehr Vollmachten im Kampf gegen das Coronavirus gibt.

Doch in den vergangenen Monaten hatten schwedische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer wieder den eigenen Sonderweg kritisiert und auf strengere Maßnahmen gepocht. Zu den Kritikerinnen gehört auch Annika Linde, ehemalige Staatsepidemiologin des Landes. Sie hätte sich schon früher stärkere Maßnahmen gewünscht: "Man muss das Virus erst kennenlernen (…). Deshalb ist es äußerst wichtig, mit frühen und wirksamen Maßnahmen auf die Ausbreitung des Virus zu reagieren, damit das Virus keine Zeit hat, sich zu stark zu verbreiten und so viele Menschen zu betreffen", sagte sie bei "Agenda".

Auch die schleppende Nachverfolgung von Infektionen mit dem Coronavirus durch Tests zu Beginn der Pandemie bemängelte sie. Es habe an Ressourcen gefehlt. Doch Tegnell konterte. Auf die Frage, warum die schwedische Gesundheitsbehörde nicht früher zur Regierung gegangen sei und die Notwendigkeit einer Verstärkung der Testkapazität signalisiert habe, antwortete dieser: "Es ging nicht um Geld, aber man kann keine Leute heraufbeschwören, die Infektionen verfolgen können. Sie mussten eingestellt und geschult werden und es stand niemand mit vorgefertigten Laborlösungen da." Es sei eine langfristige Aufgabe, das alles zu verbinden.

Zusätzlich gab Tegnell den 21 Regionen Schwedens eine Mitverantwortung für die verzögerte Test-Strategie. "Viele von ihnen sind recht klein und konnten dies nicht selbst bewältigen, sondern brauchten die Hilfe anderer privater Akteure und Universitäten. Die Regionen mussten sich umstellen." Man habe immer so gut getestet, wie es möglich war. Jetzt seien die Ressourcen dafür aufgebaut.

Tegnell widerspricht Moderatorin: Das ist falsch

Für Verwirrung und Diskussionen sorgte eine Meinungsverschiedenheit zwischen Tegnell und der "Agenda"-Moderatorin Nike Nylander. Es ging um asymptomatische Ansteckungen. Nylander sagte, man könne sehr wahrscheinlich andere mit dem Coronavirus bereits zwei Tage vor Ausbruch von Symptomen anstecken. Tegnell grätschte dazwischen: Man sei am infektiösesten, wenn man schon Krankheitssymptome zeige. Davor – also in einer asymptomatischen Phase – sei man weniger ansteckend.

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Damit widersprach Tegnell der Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation WHO. Nach Angaben der Organisation scheinen Infizierte schon wenige Tage vor Entwicklung von Symptomen am ansteckendsten zu sein. Der schwedischen Zeitung "Expressen" sagte Tegnell: "Sie (Nylander) sagte, dass man zwei Tage vor dem Auftreten von Symptomen am ansteckendsten ist, was falsch ist."

Nike Nylander findet es seltsam, dass Tegnell sie korrigiert hat, sagte sie der Zeitung: "Ich war ein wenig überrascht, dass ich korrigiert wurde, weil ich sicher war, dass es mit dem übereinstimmte, was ich gelesen und herausgefunden hatte." Sie habe den Eindruck gehabt, dass dies auch in der Wissenschaft Konsens sei.

Für- und Widerspruch für Schwedens Staatsepidemiologen

Kritik kommt auch von einem Kollegen Tegnells. Joakim Dillner, Professor für Infektionsepidemiologie am renommierten Karolinska Institutet, sagte "Expressen", dass Tegnell etwas missverstanden haben müsse. Er wisse nicht, worauf sich der Staatsepidemiologe beziehe. "Gerade wenn es (Covid-19) ausbricht, ist man am ansteckendsten. Der Zeitraum, in dem man am ansteckendsten ist, liegt zwischen zwei Tagen vor und zwei Tagen danach." Etwa die Hälfte aller Infektionen trete bei Menschen auf, die sich der Infektion nicht bewusst seien und keine Symptome hätten.

Unterstützung bekommt Tegnell hingegen von Jan Albert, Professor für Mikrobiologie und Infektionskontrolle am Karolinska Institutet. Eine Person sei am ansteckendsten, wenn die Viruslast im Körper am höchsten sei – und das sei, wenn man gerade Krankheitssymptome entwickelt habe. "Da stimme ich Tegnell zu. Die Viruswerte sind am höchsten, wenn Symptome auftreten", sagte er der Zeitung "Aftonbladet". Dies sei auch nicht zwei Tage vorher, sondern wenige Stunden bis einen halben Tag, so schätzt er. Das Ansteckungsgeschehen sei komplex. Es gebe allerdings auch Beweise, dass Menschen ohne Symptome das Coronavirus übertragen können.

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Trotz alle dem: An einen Lockdown für Schweden glaubt Tegnell nicht, wie er bei "Agenda" sagte. Auch dem Mund-Nase-Schutz stehe er weiterhin kritisch gegenüber. Viele Länder hätten trotz Maskenpflicht ein hohes Infektionsniveau. "Das Wichtigste ist immer noch, Abstand zu halten." Eine Empfehlung zum Maskentragen gibt es allerdings seit Januar diesen Jahres im öffentlichen Verkehr – allerdings nur in Stoßzeiten und nur für Menschen, die 16 Jahre oder älter sind.

Bei diesem Punkt zeigt sich Tegnell dann doch einsichtig: "Wir sind in einer schwierigen Situation und müssen alle Mittel einsetzen, die wir haben. Der Druck auf das Gesundheitswesen ist größer. Es ist Winterzeit, es ist schwieriger, im öffentlichen Verkehr Abstand zu halten."

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