Expertengruppe kritisiert Lockdown: Maßnahmen gingen an Älteren völlig vorbei

Seit Frühjahr 2020 kritisiert Matthias Schrappe, ehemaliger Berater des Bundes in Gesundheitsfragen, mit seinem Experten-Rat den Corona-Kurs. Seitdem fordert er auch, die Älteren besser zu schützen. Weil das noch immer nicht geschehen sei, bescheinigt er der Politik „völliges Versagen“.

Medizinprofessor Matthias Schrappe und seine Arbeitsgruppe finden deutliche Worte: Obwohl von Anfang an klar gewesen wäre, dass man es mit einer „Epidemie der Alten“ zu tun habe, sei seitens der Politik auch fast ein Jahr nach den ersten Corona-Fällen in Deutschland bisher nichts geschehen, um die verletzlichste Bevölkerungsgruppe zu schützen – außer einer hilflos anmutenden Aneinanderreihung von Lockdowns, die sich gerade für die Hochgefährdeten als „völlig wirkungslos“ erwiesen habe. Das schreiben die Autoren um den Kölner Infektiologen in der neuesten Version eines Thesenpapiers, in dem sie die Corona-Politik der Bundesregierung seit Monaten kritisieren.

Ihren Vorwurf unterfüttert die Gruppe aus Spezialisten aus Medizin, Pflege, Recht und Politikwissenschaft mit den weiter hohen Infektionszahlen: „Die vorübergehende Abflachung der Meldezahlen vor Weihnachten war in allen Altersgruppen zu beobachten, nur nicht in den höheren Altersgruppen über 85 Jahre.“ Dass die absolute Sterblichkeit bei den Infizierten über 80 Jahren seit der 41. Kalenderwoche (Anfang Oktober) anstieg, bis sie in der Kalenderwoche 51 (Mitte Dezember) auf einen Rekordwert von über 88 Prozent kletterte, führen die Experten zurück auf „gravierende politische Fehlentscheidungen“.

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Lockdown-Jojo: Eindruck einer völligen Planlosigkeit

Eine langfristige Strategie der Corona-Politik von Bund und Ländern sei auch „weiterhin nicht erkennbar“. Vielmehr dränge sich der Eindruck einer völligen Planlosigkeit auf: „Es besteht die paradoxe Situation, dass eine mit hohen gesellschaftlichen Kosten verbundene Lockdown-Politik durchgesetzt wird, ohne andere Optionen in Betracht zu ziehen und über einen dringend notwendigen Strategiewechsel überhaupt nur nachzudenken, obwohl die am stärksten Betroffenen, die höheren Altersgruppen und Pflegeheimbewohner durch einen Lockdown nicht geschützt werden.“

Die Alten- und Pflegeheimbewohner machen nach den Berechnungen der Arbeitsgruppe ein knappes Drittel aller Todesfälle in Deutschland aus; am 5. Januar dieses Jahres waren allein in den Pflegeheimen 10.149 Todesfälle aufgetreten, entsprechend 28 Prozent aller Todesfälle in Deutschland (insgesamt 36.537). Die Sterblichkeit jüngerer Infizierter liege dagegen bei weit unter einem Prozent. Ein Bewegungsradius von 15 Kilometer, wie er seit Montag in Corona-Hotspots gilt, könne dabei wohl kaum etwas gegen die Situation in den Alten- und Pflegeheimen ausrichten – die Bewohner dürfen ihre Einrichtung ja ohnehin nicht verlassen. Our World in Data/Covid Map Seit Oktober steigt die Zahl der Menschen, die mit oder an Covid-19 gestorben sind, kontinuierlich. Unter den Opfern sind vor allem über 80-Jährige.

Es braucht gezielte Präventionsmaßnahmen

Schon lange fordert das Team um Schrappe, die allgemeinen Präventionsmaßnahmen durch zielgruppenorientierte zu ergänzen, „weil sonst die Folgen nicht zu beherrschen sind“. Konkrete Vorschläge zum Schutz von Risikogruppen lieferten sie bereits in ihrem fünften Thesenpapier vom 23. Oktober. Beispielhaft genannt seien reservierte Öffnungszeiten von Supermärkten sowie Taxischeine, damit gefährdete Menschen nicht den ÖPNV nutzen müssen. Und auch die Reaktivierung von nachbarschaftlichen Unterstützungsdiensten wie Lieferservices sei ein wichtiges Element, um Infektionen vorzubeugen. Doch getan hat sich bisher wenig.

Das kritisieren die Experten auch in ihrem aktuellen Thesenpapier: Zwar seien einige ihrer vorgeschlagenen Maßnahmen von zahlreichen Institutionen und auch von den Bundes- und Landesregierungen in Teilen übernommen worden. Aber ein Durchgreifen oder ein Strategiewechsel im Sinne eines expliziten Schutzes der Corona-Risikogruppen sei noch immer nicht in Sicht. „In Teilen sind jetzt Maßnahmen in Planung, die einen Schutz von verletzlichen Bevölkerungsgruppen in Aussicht stellen, aber man gewinnt nicht den Eindruck, dass die politische Führung ihre eindimensionale Sichtweise tatsächlich infrage stellt.“

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Aus unerfindlichen Gründen 6000 freie Intensivbetten

Das Versäumnis der Politik offenbare sich aber nicht nur beim Umgang mit den Älteren in der Pandemie, sondern auch an anderer Stelle, kritisiert die Autorengruppe um Schrappe weiter. So beobachtete das Team 6000 weniger freie Betten auf den Intensivstationen als angenommen. Die Zahl der Covid-19-Patienten, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen, sei deutlich angestiegen. Parallel dazu sei „ein absoluter Abfall der Gesamtintensivkapazität“ zu beobachten, „der mit den zur Verfügung stehenden Daten nicht erklärbar ist“.

Als Grund vermutet die Expertengruppe Personalmangel und die nun fehlende Freihaltepauschale, die der Bund den Krankenhäusern noch während der ersten Welle als Entschädigung für vorgehaltene Intensivbetten gezahlt hatte. „Eine nationale und umfassende Anstrengung zur Rekrutierung von genügend Pflegekräften und zum Management der Intensivpflegekapazitäten unterblieb, sodass jetzt über die Triage von Krankenhauspatienten nachgedacht wird“, monieren die Experten.

Politik ruht sich auf Impfstoffen aus

Das Ziel einer Sieben-Tage-Inzidenz von 50 Fällen pro 100.000 Einwohner sehen sie aktuell daher „in unerreichbarer Ferne“. Vor allem, wenn sich die Politik weiterhin auf den Corona-Impfungen ausruhe, wie sie es allem Anschein nach gerade tue: „Man hat den unmittelbaren Eindruck: die Impfung ändert alles, und man könne sich zurücklehnen nach dem Motto „die Impfung wird es richten.““

Schrappe und Co. halten das allerdings für einen Trugschluss. Es sei irreführend, den Erfolg der Impfkampagne anhand eines Einzelkriteriums wie der Impfquote zu messen. Denn diese gebe Anlass zu falscher Sicherheit: „Die Impfquote kann zum Beispiel bei frühzeitiger Impfung jüngerer Personen sehr rasch gesteigert werden, obgleich die Sterblichkeit dadurch nicht günstig beeinflusst wird.“

Matthias Schrappe ist Infektiologe und seit 1996 Professor an der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln. Als Stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit hat er über Jahre die Bundesregierung beraten. Die aktuelle Corona-Politik kritisiert er gemeinsam mit acht weiteren Wissenschaftlern seit April in verschiedenen Versionen eines Thesenpapiers.

Impfstoffwirkung: Das bedeuten die 95 Prozent wirklich

Und auch an der Aufklärung vor den Impfungen mangele es aus ihrer Sicht bislang. Besonders die Angaben zur Wirksamkeit müssten vorsichtiger und korrekt kommuniziert werden, betonen die Autoren des Thesenpapiers. Demnach werde die immer wieder genannte 95-prozentige Wirksamkeit vielfach so verstanden, dass der Impfstoff bei 95 Prozent der geimpften Personen wirksam ist. Wenn sich also alle 83 Millionen Menschen in Deutschland impfen lassen, hätten 95 Prozent der Bevölkerung einen Schutz vor der Infektion, nur die nicht oder unwirksam geimpften 4,15 Millionen Bürger wären dann noch gefährdet, sich anstecken zu können.

So sei dieser Hinweis auf die Wirksamkeit aber nicht zu verstehen: „Die Angaben wie ,95-prozentiger Schutz‘ beziehen sich auf das Verhältnis von symptomatischen Fällen zwischen wirkstoffhaltiger Impfung und Placebo, nicht auf das Auftreten einer reinen Infektion mit Sars-CoV-2 oder die Infektiosität.“ Bei einer Infektion mit Sars-CoV-2 haben Geimpfte also ein 20-mal niedrigeres Risiko einer symptomatischen Covid-19-Erkrankung als nicht Geimpfte.

Müssen mehr zu Nebenwirkungen forschen

Ferner wünschen sich die Experten mehr Untersuchungen zur Sicherheit der Impfstoffe, konkret zu möglichen Nebenwirkungen. Bisher sei es so, dass bei einer Impfung die Namen der Geimpften, das Geburtsdatum, Geschlecht, das Impfdatum, das Impfstoffprodukt, die verabreichte Dosis und der Impfungsort erfasst und pseudonymisiert werden, d.h. mit einer Laufnummer, die keine Beziehung zu den Daten des Geimpften und damit Hinweise auf die einzelne Person zulässt, im Rahmen eines elektronischen Übertragungssystems an das Robert-Koch-Institut (RKI) übermittelt werden. So sieht es die Impfverordnung des Bundesgesundheitsministeriums vor.

Bei diesem Verfahren seien wichtige Auswertungen, nämlich insbesondere der Vergleich der unerwünschten Wirkungen und Begleiterscheinungen der Geimpften gegenüber den Nichtgeimpften nicht möglich. Würden die Impfzentren dagegen beispielsweise die Krankenversicherungskarten der Geimpften einlesen, sodass man im Anschluss an die beiden Spritzen aufgrund der Daten der Krankenkassen behandlungswürdige Nebenwirkungen analysieren könne – Wie oft müssen Geimpfte ins Krankenhaus? Wann und warum zum Arzt? –, ließen sich unerwünschte Effekte viel leichter dokumentieren.

Doch: „Dieser Vorschlag der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie und anderer Fachgesellschaften wurde bisher nicht berücksichtigt“. Dadurch bestehe die Gefahr, dass relevante Daten für Studien zur Sicherheit der Impfungen nicht zur Verfügung stehen werden – was sich wiederum negativ auf die Impfbereitschaft und das Vertrauen in die Impfkampagne auswirken könne.

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  • Eine Entschärfung ist erst Anfang März in Sicht

    Ist angesichts der pessimistischen Diagnose der Arbeitsgruppe überhaupt ein Ende der kritischen Corona-Lage in Sicht? Das Team um Schrappe rechnet damit, dass mit den jetzt beginnenden Impfungen in den Alten- und Pflegeheimen erst Ende Februar alle über 80-Jährige geimpft sind, wodurch sich die dramatische Lage allmählich entschärfen sollte.

    So werden laut ihren Berechnungen bei einer Wirksamkeit von 95 Prozent der Impfung Anfang März rund 20.000 von insgesamt 150.000 gemeldeten Infektionen pro Woche verhindert. Entsprechend werden bei den über 80-Jährigen in der ersten Märzwoche 3200 von 4700 Sterbefällen verhindert. Bei Impfungen in der stationären Langzeitpflege und im ambulanten Sektor empfiehlt die Arbeitsgruppe außerdem, gleichzeitig mit Patienten auch die unmittelbaren Kontaktpersonen vor Ort zu impfen.

    Zusammenfassend lässt sich damit konstatieren: Es ist davon auszugehen, dass die Melderaten kaum auf die Impfungen reagieren werden, während aber ein deutlicher Einfluss auf die Sterberate zu registrieren sein wird.

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