Gespräche mit den Patienten? "Uninteressant – es bringt keine zusätzlichen Erlöse"

Worum genau geht es bei dem Appell der Ärzte im aktuellen stern?

Im stern haben sich 215 Ärzte und 19 Standesorganisationen zusammengefunden, die fordern, dass endlich Schluss sein muss damit, dass Patienten an deutschen Krankenhäusern überversorgt oder unterversorgt werden. Wir alle tragen ein Preisschild auf unserer Stirn – schon wenn wir in die Notaufnahme kommen. Und danach werden wir dann in ein sogenanntes Fallpauschalen-System in zwei Schubladen einsortiert. Die einen sind lukrativ und werden operiert, wenn sie nicht bei drei auf den Bäumen sind. Und die anderen, mit denen drohen Minusgeschäfte. Die werden weggeschickt, wann immer möglich.                    

Sind die Bedingungen in deutschen Krankenhäusern denn wirklich so schlecht?

Also, es ist ehrlich gesagt schlimmer, als ich es mir vorgestellt habe. Ich habe mit mehr als 100 Ärzten gesprochen, viele junge Assistenzärztinnen und -ärzte bis hin zu Präsidentinnen und Präsidenten von Fachgesellschaften. Und das Erschreckende ist: Fast alle beschreiben flächendeckend eigentlich die gleichen Missstände. Immer geht es um die toxische Mischung aus hohem ökonomischen Druck und dem Fallpauschalen-System mit seinen Fehlanreizen für Übertherapie. Ein Beispiel, das besonders viel diskutiert wird in diesen Tagen: Patienten werden häufig viel länger beatmet als nötig, weil das extrem lukrativ ist. 24 Stunden geben dann zum Beispiel 25.000 Euro – mehr Geld als bei komplizierten Operationen. Aber: Je länger man beatmet wird, desto schlechter kommt man davon los und mit der Beatmungszeit steigt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass es zu lebensgefährlichen Komplikationen kommt. Auf sowas nimmt die Ökonomie wenig Rücksicht.

Wie ist es zu dieser Misere gekommen?

In den 90er Jahren ist das so richtig nach Deutschland übergeschwappt, da geisterte unter Politikern das Gespenst der Kostenexplosion im Gesundheitswesen um. Und den Ärzten wurde damals die Regie über das Gesundheitswesen und das Krankenhauswesen entrissen, weil sie die Missstände von zuvor nicht unter Kontrolle bekommen haben. Alle Politiker haben damals an die neo-liberale Losung geglaubt: Nichts funktioniert besser als der freie Markt. Es wurden immer mehr defizitäre Krankenhäuser an private Träger und Konzerne verkauft, deren Teilhaber zweistellige Rendite erwarten. Die Macht wurde vielerorts in die Hände von betriebswirtschaftlich geschulten Geschäftsführern gelegt, und das Fallpauschalensystem wurde 2003 eingeführt. Eines der Ziele war dabei, dass die Krankenhäuser in einen Wettbewerb gegeneinander gezwungen werden.

Und was bedeutet das heute für den Alltag der Ärzte?

Es gilt die Grundregel: Was im Fallpauschalen-System nicht dokumentiert wird, kann auch nicht abgerechnet werden – dann kriegt die Klinik kein Geld. Und deswegen muss jeder Arbeitsschritt sorgfältig dokumentiert werden. Dabei dokumentieren Ärzte und Schwestern mittlerweile mehr, als dass sie am Patienten sind. Der Verwaltungsaufwand ist nach Schätzungen auf das Drei- bis Fünffache gestiegen. Gespräche mit dem Patienten oder das Nachdenken und Nachforschen in der Fachliteratur über die Krankheit, das Beobachten des natürlichen Verlaufs der Krankheit – das alles ist für die Krankenhausverwaltungen uninteressant, es bringt keine zusätzlichen Erlöse.

Gibt es einen Ausweg aus der Misere und wie könnte dieser aussehen?

Ein Berliner Gesundheits-Ökonom schlägt Sockelbeträge vor, mit denen ein Teil der Fallpauschalen dann wegfallen würde. Und dann hätten kleine Häuser nicht mehr den Druck, dass sie um jeden lukrativen Krebspatienten buhlen müssten, für den sie vielleicht gar nicht geeignet sind. Und die großen Häuser würden nicht auf den sogenannten Extremkosten-Fällen sitzen bleiben. Es wird dann auch noch diskutiert darüber, dass viele kleine Häuser zu größeren zusammengelegt werden. Das ist aber extrem umstritten. Denn: Was würde passieren, wenn man nur einen Kahlschlag der Krankenhäuser vorantreibt, sich aber gar nicht um die Fehlanreize kümmert? Dann wäre alles wie zuvor, nur mit weniger Kliniken.

Was will der stern mit dem Appell erreichen?

Es sollen sich endlich mal alle zusammenschließen hinter einem gemeinsamen Nenner – und wenn es auch nur ein Minimalkonsens ist. Und unter diesem Appell, da stehen jetzt Unterstützer, die sich eigentlich spinnefeind sind. Das ist das eigentlich Neue daran, dass die sich jetzt auf einen Kompromiss geeinigt haben. Und es geht weiter: Die Ärzte und die Organisationen können sich online dem Appel anschließen unter [email protected]. Und dann hoffe ich, dass da irgendwann auch die Bundesärztekammer dabei ist, die hat mir nämlich eine aalglatte Absage geschickt und bezieht bis heute keine Stellung. Das ist wirklich brisant, denn vier Landesärztekammern unterstützen den Appell. Und von der Dachorganisation und den anderen Landesärztekammern: Nur Schweigen, nichts auf der Website, die wollen das offenbar aussitzen.

Sind Sie Ärztin oder Arzt?

Falls Sie den Mediziner-Appell (hier zum Nachlesen) namentlich unterstützen wollen, schreiben Sie uns bitte an [email protected]. Die Liste der Unterzeichner wird auf stern.de veröffentlicht. Um überprüfen zu können, dass Sie wirklich Ärztin oder Arzt sind, benötigen wir von Ihnen folgende Angaben (nur Punkt 1-3 wird veröffentlicht):

1. den vollständigen Namen

2. Facharztbezeichnung und Funktion

3. Arbeitsort

4. Arbeitgeber

5. E-mail von einem verifizierbaren Account (z.B. Ihre Praxis, Ihr Arbeitgeber)

6. Hilfreich: Website-Auftritt Ihrer Praxis oder Ihres Arbeitsgebers mit Angaben zu Ihnen

Sollten Sie Beispiele beobachten, die zeigen, wie wirtschaftliche Zwänge ärztliche Entscheidungen beeinflussen, schreiben Sie uns gern auch dies. Wir nehmen dann vertraulich Kontakt zu Ihnen auf.



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