Herdenimmunität in den USA? Unwahrscheinlich, meinen Experten – aber auch nicht so schlimm

Zu Beginn der Pandemie, als Impfstoffe noch Wunsch statt Wirklichkeit waren, hat vor allem ein Begriff das Ziel markiert: Herdenimmunität. Jener Zeitpunkt also, an dem so viele Menschen gegen das Coronavirus immunisiert sind, ob durch eine Impfung oder überstandene Erkrankung, dass sich der Erreger nur noch mühsam verbreiten kann, weil er immer weniger Wirte findet – und wir ihn langfristig loswerden.

Besonders die krisengebeutelten USA, die weltweit am meisten Corona-Tote beklagen, sehnten sich diesen Zeitpunkt herbei. Nun, mit Impfquoten von 44 Prozent (Erstimpfung) und 33 Prozent (Zweitimpfung), nähern sich die Vereinigten Staaten dieser Wegmarke immer schnelleren Schrittes. Experten gehen mittlerweile davon aus, dass die Herdenimmunität bei einer Immunisierung von 75 bis 80 Prozent der Bevölkerung erreicht wird. Doch gleichzeitig bezweifeln immer mehr Experten, dass dieses Ziel überhaupt greifbar ist. Zumindest in naher Zukunft.

Die neue Losung lautet: Das Virus ist gekommen, um zu bleiben – doch man kann es in Schacht halten.

So lautet zumindest eine zentrale Einschätzung, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun gegenüber der "New York Times" formuliert haben. Ihre Prognose: Das Coronavirus wird noch über Jahre in den USA zirkulieren und weitere Todesfälle und Krankenhausaufenthalte zur Folge haben, jedoch in viel geringerem Ausmaß – und damit zu einer beherrschbaren Bedrohung werden. Die Annahme, nämlich: Das Virus verändert sich schnell, weitere Mutationen werden sich verbreiten und die Impfungen nicht Schritt halten können, sodass eine Herdenimmunität bald in Reichweite sein könnte.

Der Piks, das Kalkül und eine unbequeme Wahrheit

"Es ist unwahrscheinlich, dass das Virus verschwindet", sagt deshalb Rustom Antia, Evolutionsbiologe an der Universität in Atlanta. Daher müsse alles unternommen werden, dass es sich künftig nur noch um eine "milde Infektion" handele. Nur wie?

Ein zentraler Faktor bleibt dabei: der Piks. Damit sich das Coronavirus zu einer kontrollierbaren Bedrohung wandelt, müssten sich noch immer ausreichend Menschen impfen lassen, meinen Experten – unabhängig von der verheißungsvollen Herdenimmunität.

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"Vergessen Sie das für eine Sekunde", sagt Anthony Fauci in Bezug auf das "mystische Level", das erreicht werden müsse, "egal wie hoch diese Zahl ist". "Wenn sie genug Menschen impfen, werden die Infektionszahlen heruntergehen", so der Krisenberater von Präsident Biden zur "New York Times". 

Das Umdenken in Sachen Herdenimmunität folgt einem Kalkül, aber auch einer unbequemen Wahrheit.

Die unbequeme Wahrheit: das Virus bleibt unberechenbar. Was, wenn noch mehr Mutationen auftreten? Die noch ansteckender sind? Und ansteckend bleiben, trotz Impfung und Immunisierung? Eine weitere Variable sind diejenigen, die sich nicht impfen lassen wollen – Umfragen zufolge sind das aktuell rund 30 Prozent der US-Bürger, so die "New York Times". 

Kurzum: Der Zeitpunkt, an dem die Herdenimmunität erreicht wird, kann sich jederzeit verschieben. Zumal das Coronavirus keine Rücksicht auf regionale Begebenheiten nimmt – selbst wenn in den USA die magische Schwelle erreicht wird, muss das nicht im Rest der Welt so sein. Und das Corona-Karussell dreht sich weiter.

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Das Kalkül, daher: Werden die vulnerabelsten Gruppen weiterhin konsequent geimpft und somit einer Infektion geschützt, würde das Coronavirus irgendwann hauptsächlich junge und gesunde Menschen treffen, deren Gesundheit weniger gefährdet ist. So konnten die USA schon jetzt das schwere Infektionsgeschehen deckeln. Eine Infektion mit Covid-19 könnte dann sogar zu einer saisonalen Erscheinung werden, ähnlich wie eine Grippe, die wahrscheinlich nicht zu einer Überlastung der Gesundheitsämter führen würde.

Der Evolutionsbiologe Carl Bergstrom von der Washington-Universität in Seattle spricht gegenüber der "New York Times" von einem "vernünftigen Ziel", an einen Punkt zu gelangen, "an dem es nur noch sporadisch zu kleinen Schüben kommt." Langfristig gesehen – über ein oder zwei Generationen – sei das Ziel, das Coronavirus so umzuprogrammieren, dass es sozusagen seinen Artverwandten ähnelt, die lediglich Erkältungen (also einen milden Krankheitsverlauf) zur Folge haben. 

Die höchste Sterblichkeit würde die Altersgruppe über 60 Jahren und jene Menschen aufweisen, die besondere Erkrankungen hätten, sagt der Epidemiologe Marc Lipsitch zur "New York Times". Von ihrer Versorgung bei einem schweren Infektionsgeschehen ginge auch die größte Belastung des Gesundheitssystems aus. "Wenn wir diese Menschen vor schwerer Krankheit und Tod schützen können", so Lipsitch, "haben wir Covid von einem Gesellschaftszerstörer zu einer regulären Infektionskrankheit gemacht." 

Insofern hat sich vielleicht das Ziel verschoben, nicht aber die dringlichste Herausforderung: dass sich so viele Menschen wie möglich impfen lassen. Es gehe nicht darum, ein Rennen zu gewinnen, so der Epidemiologe Lipsitch. "Sie müssen weiter impfen, um über der Schwelle zu bleiben." Dann könnte das Coronavirus zu einer kontrollierbaren Bedrohung werden. 

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