Obdachlos zur Corona-Zeit: "#stayhome ist ein Witz, das gilt nur für Menschen, die ein Zuhause haben"

Als ich mein Fahrrad in die Ottenser Hauptstraße schiebe, erkenne ich Volker schon von weitem. Ich hatte ein Bild von ihm gesehen – seine Silhouette ähnelt der einer amerikanischen Countrylegende. Da ich mir ziemlich sicher bin, dass Willie Nelson nicht gerade auf einer Parkbank unter einem Baum in der Altonaer Fußgängerzone sitzt, weiß ich: Das ist er. Für drei Uhr sind wir verabredet und es ist fünf vor. Da ich ihn schon aus der Ferne angrinse, erkennt er auch mich und kommt auf mich zu. „Ich habe braune Haare“, hatte ich ihm am Telefon als einziges Erkennungsmerkmal genannt, und er parierte die nichtssagende Info prompt mit: „Gut, das hat ja sonst niemand.“ Toll, er hat Humor, dachte ich beim Auflegen und habe mich auf unser Treffen gefreut.

Nun allerdings scheint es plötzlich der falsche Zeitpunkt zu sein, denn Volkers erster Satz nach einem Begrüßungs-Hallo lautet: „Jetzt ist gerade die Suppe gekommen, siehst du das Lastenrad da hinten?“ Er deutet in Richtung Busbahnhof. „Da ist mein Mittagessen.“

Volker unterstützt die Kampagne von StrassenBLUES e.V., die auf die prekäre Situation von Obdachlosen während der Corona-Pandemie aufmerksam macht: Wie soll #stayhome funktionieren, wenn es kein Zuhause gibt?

StrassenSUPPE

Essen geht natürlich vor. Wir laufen in Richtung Lastenrad, neben dem bereits Menschen anstehen, die auf ihre warme Mahlzeit warten. Für StrassenSUPPE bereitet der TV-Koch Tarik Rose ehrenamtlich täglich eine Suppe zu, seitdem wegen des Coronavirus viele Sozialeinrichtungen geschlossen sind, die zuvor die Menschen auf der Straße verpflegt haben. Das Start-up recyclehero liefert das Essen mit E-Lastenrädern aus und versorgt so jeden Tag rund 3000 Menschen in Hamburg. Die junge Frau, die die Suppe in abgepackten Beuteln mit Löffel, Serviette, Brötchen und einer Flasche Wasser verteilt, hat vor sich eine Bücherkiste stehen. Auf einen fragenden Blick hin erklärt sie: „In den letzten Tagen haben sich manche beschwert, dass wir nichts zu lesen dabeihaben.“ Obenauf in der Kiste liegen die Heino-Biografie „Mein Weg“ und das Buch „Ich mach dann mal weiter!“ des „Lindenstraßen“-Darstellers Georg Uecker. Mottoparty am Lastenrad, denke ich, da hat wohl jemand ausgemistet.

Mit dem Beutel in der Hand gehen Volker und ich zurück an den Ort, den er als Treffpunkt vorgeschlagen hatte: das Mercado-Einkaufszentrum. Da es sich bei unserer Begegnung nicht um ein Tinder-Date handelt und zurzeit alle Cafés geschlossen haben, landen wir auf dem komplett verwaisten Parkdeck. Sitzgelegenheiten gibt es dort natürlich nicht, also entscheiden wir uns für eine Treppe im Schatten, auf deren Stufen wir den empfohlenen Corona-Abstand einhalten können. „Ich habe mir letzte Woche erst einen Sonnenbrand geholt“, erklärt Volker die kühle Ortswahl auf dem Dach und packt sein Mittagessen aus. „Im Mercado haben sie seit Corona alle Bänke abgebaut, auf denen ich sonst ab und zu sitze.“ Lediglich im Erdgeschoss haben noch Läden geöffnet, weil dort die Lebensmittel-Händler und Supermärkte untergebracht sind.

Die Suppe in Volkers Hand riecht lecker. Ich darf in den Pappbecher gucken und sehe Lauch, Kartoffeln, Möhren, alles frisch, schön kleingeschnitten und gut löffelbar. Als er sie zur Hälfte gegessen hat, zieht Volker seinen Tabak aus der Tasche, dreht sich eine Zigarette und fragt: „Rauchst du?“ Bevor er die Zigarette anzündet, holt er ein kleines Metalldöschen raus, nimmt den Deckel ab und stellt es zwischen uns auf eine Stufe der Gitterrosttreppe. Ein Aschenbecher.  

Parkdeck

Volker ist 64 Jahre alt, gebürtiger Hamburger und lebt seit sechs Jahren auf der Straße. Er war selbstständig und musste damals Insolvenz anmelden, Geld für eine Unterkunft blieb nicht. Er spricht bedacht und wirkt anders als die Obdachlosen, die ich im Schanzenviertel erlebe. Dort scheint stets kollektive Partystimmung zu herrschen, Volker aber ist ein Einzelgänger. Auf die Frage, ob er mit anderen Obdachlosen befreundet sei, kontert er: „Habe ich Freunde? Warte mal. Ja, einen, und ich hoffe, dass er in Kanada ist. Aber ich habe viele Bekannte.“

Als seine Zeit ohne festen Wohnsitz begann, stellte Volker fest, dass die meisten Menschen auf der Straße am Monatsanfang, wenn das Geld kommt, „wie die Könige“ leben, zum Ende hin aber keinen Cent mehr in der Tasche haben. Er beschloss, es andersherum zu machen, sparsam zu starten und zu gucken, was am Monatsende übrig ist. Als er merkte, da bleibt noch was, entschied er, das restliche Geld nicht auszugeben, sondern zu sparen. Denn Volker hat Träume, der aktuelle, den er nach der Corona-Pandemie umsetzen will, ist eine mobile Trommelgruppe. 

StrassenBLUES e.V.

Volker ist einer der Protagonisten für die #hotelsforhomeless-Kampagne von StrassenBLUES e.V. Er kennt den Vereinsgründer Nikolas Migut schon lange. „Mit Volker habe ich mal einen Beitrag für das NDR-Kulturjournal gemacht“, erzählt mir Migut am Telefon, bevor er den Kontakt zwischen Volker und mir herstellt. „Darin beschreibt er anhand eines Büchleins von Amnesty International, das die UN-Menschenrechtscharta zitiert, dass jeder Mensch ein Recht auf Wohnen hat.“ Mit der neuen Kampagne sucht der Verein nach Unterbringungsmöglichkeiten für Obdachlose während der Corona-Pandemie. StrassenBLUES arbeitet mit etwa 50 Menschen plus Vorstand komplett ehrenamtlich. Volker hat bereits an mehreren Aktionen mitgewirkt.

Ihm selbst wurde in der vergangenen Woche schon ein Zimmer angeboten, doch das war im Stadtteil Hamburg-Hamm, dort wollte er nicht hin. Er braucht seinen Kiez im Raum Altona, dort kennt er sich aus und fühlt sich sicher. Zudem hat Volker das Glück, dass er noch seine Ape hat, einen dreirädrigen Roller, dessen Ladefläche ihm, mit einer Plane überdeckt, als Schlafplatz dient.

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#hotelsforhomeless

Für Menschen ohne festen Wohnsitz ist es nahezu unmöglich, die Hygienevorschriften während der Corona-Krise einzuhalten. Migut sieht deswegen die Notwendigkeit, Obdachlosen einen sicheren Schlafplatz zu gewähren. StrassenBLUES versucht, deutschlandweit Hotels, Hostels und Jugendherbergen zu gewinnen, damit sie ihre leerstehenden Zimmer zur Verfügung stellen. Nicht kostenlos, natürlich, deswegen startete er die Spendenkampagne #hotelsforhomeless. Auch wenn es großartig ist, dass Unternehmen lokal einspringen, reicht das nicht aus. Anfang April hat Zigarettenhersteller Reemtsma zum Beispiel 300.000 Euro bereitgestellt, um etwa 250 Wohnungslosen in Hamburg für einen Monat „eine sichere, hygienische und menschenwürdige Einzelunterbringung“ zu ermöglichen, doch in Deutschland haben rund 650.000 Menschen keine eigene Unterkunft. Das haben Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) für das Jahr 2017 ergeben, aktuellere Zahlen gibt es bislang nicht. Davon sind etwa 48.000 Menschen obdachlos –und um deren Überleben macht sich Migut zurzeit Sorgen.

Die Stiftung stern – Hilfe für Menschen e.V. unterstützt StrassenBLUES e.V. beim Sammeln von Spenden. Helfen Sie uns dabei!

Corona

Viele Menschen, die draußen leben, haben ein geschwächtes Immunsystem, was sie zu einer Risikogruppe für das Virus macht. Volker sagt, der vergangene Winter sei der härteste gewesen, seit er auf der Straße lebt. Auch wenn es in Hamburg nicht so kalt war wie sonst und kaum geschneit hat. „Es war extrem nass“, sagt Volker, „meine Akkus waren alle leer. Das war schlimm. Jetzt geht es mir besser, wahrscheinlich auch, weil ich mehr draußen bin und mich gesünder ernähre.“ Chapeau an den TV-Koch Rose – und an all jene, die ihre Essensausgaben inzwischen zur „To-go-Versorgung“ umgestellt haben.

Im Alltag hat sich seit Corona vieles verschlechtert, manches dramatisch. „Es gibt kaum noch Orte, an denen man sich zurückziehen kann“, sagt Volker, „da ist eine ganze Menge weggebrochen.“ Er meint die Plätze für Obdachlose, die wegen Corona schließen mussten. Und jene, wo er sich sonst aufgehalten hat. Um einen Kaffee zu trinken oder das Wlan zu nutzen. Dramatisch steht es um die Möglichkeiten, zur Toilette zu gehen oder sich die Hände zu waschen – während die einen kaum noch Haut auf den Händen besitzen, haben die anderen keine Chance auf Hygiene.

Für Nikolas Migut war eine Begegnung 2012 an der Berliner Bahnhofsmission ausschlaggebend, sich weiterhin für Obdachlose zu engagieren. Damals begleitete er für eine Videodokumentation eine Nacht lang Alex, der auf der Straße lebte und am Boden war. Zwei Jahre später machte er sich auf die Suche nach ihm, Anfang 2015 fand er ihn – Alex hatte inzwischen eine Wohnung, seine Alkoholsucht und sein Leben im Griff. Kurz darauf gründete Migut den Verein StrassenBLUES. 

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Phase 1: Geld

Zu Beginn der Corona-Krise Anfang März wusste Migut, dass jetzt der Zeitpunkt war, sofort zu handeln – die Not auf der Straße war so groß geworden. „Keine Einkünfte durch Betteln, weil kaum noch jemand auf der Straße war, aus dem gleichen Grund auch keine Einnahmen durch Pfandflaschen“, erzählt er. Zudem hatten die sozialen Einrichtungen schließen müssen, Migut sah: „Die Obdachlosen leiden richtig und brauchen ganz dringend, ganz schnell Hilfe.“ Binnen eines Tages stellte der StrassenBLUES sein Vereinsgeld zur Verfügung, verteilte 20-Euro-Scheine bar an Obdachlose und startete einen Spendenaufruf über betterplace.

Phase 2: Essen

Da die Essensversorgung nicht mehr gewährleistet war, entstand der nächste Plan, dieses Grundbedürfnis zu befriedigen. Mit dem Koch Rose an Bord und dem E-Lastenrad-Start-up im Hintergrund begann die dezentrale Auslieferung von StraßenSUPPE. Parallel wurden statt Geld Gutscheine für Supermärkte verteilt und mit dem Berliner Partner Karuna e.V. eine Zeitschrift in fünf Sprachen gedruckt, die über Corona aufklärt und Hinweise zum Schutz liefert. Ferner wurde eine Handy-Hotline eingerichtet, bei der sich Menschen mit Covid-19-Symptomen melden können.

Phase 3: Schlafplatz

Die meisten Obdachlosen fühlen sich in den Sommer- und Winternotprogrammen wegen Gewalt, Diebstahls, Drogen und der vorgeschriebenen Zeiten, zu denen sie die Einrichtungen betreten dürfen, bevormundet und unsicherer als auf der Straße. Sie meiden diese Angebote deswegen. Migut berichtet, dass eine Umfrage unter Obdachlosen, die sein Berliner Partner Karuna e.V. durchgeführt hat, bei Einzel- oder Zweibettzimmern in Hotels ein anderes Stimmungsbild ergab: Eine solche Lösung während der Corona-Zeit fänden die meisten Befragten sinnvoll. 

„Der Aufruf #stayhome ist eigentlich ein Witz, das gilt nur für Menschen, die ein Zuhause haben und zu Hause bleiben“, sagt Migut. „Wir haben deswegen mit den Hashtags gespielt und sie aus Obdachlosensicht weiterinterpretiert: Aus #stayhome wurde #createhome und aus #staysafe wurde #letmebesafe.“ StrassenBLUES hat auf seiner Website eine Liste veröffentlicht, die eine Übersicht mit deutschen Städten und ihren Angeboten an Hotelzimmern für Obdachlose zeigt. „Die Bereitschaft der Hoteliers ist durchaus da“, sagt Migut. „Aber man braucht einen Träger, der das umsetzt, wie in Hamburg etwa die Diakonie. Die Sozialbehörde argumentiert mit einer 24/7-Betreuung und den dafür fehlenden Sozialarbeitern. Doch das ist altbacken. Wir brauchen lediglich Ansprechpartner und müssen nach dem Modell Housing First ein Hotel First hinkriegen – ohne Tonnen von Formularen und Beschränkungen.“

Für die Kampagne von StrassenBLUES e.V. kommen die Models von der Straße

Housing First wird nicht nur in Finnland oder den USA erfolgreich praktiziert, sondern auch in Städten wie Berlin und Düsseldorf, auch wenn dadurch noch lange nicht jeder Obdachlose eine eigene Wohnung hat. Hinter dem Programm steckt folgendes Prinzip: Anstatt obdachlose Menschen mit medizinischer und psychologischer Betreuung, Lebensmitteln und Kleidung notdürftig auf der Straße zu versorgen, bekommen sie ohne jegliche Bedingung eine Wohnung mit eigenem Mietvertrag – und nicht nur ein Bett im Schlafsaal einer Unterkunft. „Nur so können wir schnell genug handeln“, sagt Nikolas Migut. „Wir sind davon überzeugt, dass es ein Recht auf Wohnen gibt.“ Er hat eine eigene Seite für letmebesafe.org eingerichtet, die mit einer einfachen Definition des Dudens beginnt – Zuhause: Wohnung, in der jemand zu Hause ist und sich wohlfühlt.

DANKE!

Volker liegen zwei Dinge am Herzen, die ein hoffnungsvolles Schlusswort ergeben: „Ich würde mich gerne bei allen Menschen bedanken, die in der schweren Situation an alle denken, denen es nicht so gut geht – insbesondere an die Obdachlosen. Die Menschen, die dafür sorgen, dass deren Leid nicht so groß ist. Ich würde mich freuen, wenn sie dabei bleiben. Und ich würde mich freuen, wenn wir nach der Corona-Krise Wege finden, die Obdach- und Wohnungslosigkeit abzuschaffen.“

Spenden

In diesen schweren Zeiten müssen wir alle zusammenstehen. Helfen Sie den Obdachlosen in Deutschland, die gerade besonders schwer von der Corona-Krise betroffen sind. Wir leiten Spenden an ausgewählte Hilfsorganisationen weiter. Stiftung stern – Hilfe für Menschen e.V., IBAN: DE63 2007 0000 0469 9500 02, BIC: DEUTDEHH.

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