Virologin über Corona-Lage in Deutschland: "Ich rechne mit 10.000 Neuinfizierten in Kürze"

Das RKI meldete allein am Samstag über 4000 Neuinfektionen mit dem Coronavirus in Deutschland – den dritten Tag in Folge. Überrascht Sie das?

Nein, leider war das abzusehen. Die Zahlen steigen seit Wochen kontinuierlich. Bei exponentiellem Wachstum sehen die Kurven anfangs immer ganz harmlos aus. Dann geht es irgendwann ganz schnell nach oben. Und es ist eine sehr besorgniserregende Entwicklung. Ein Problem ist ja, dass wir zeitlich immer hinterherhängen – diese 4700 diagnostizierten Neuinfektionen, die allein am Samstag gemeldet wurden, sind ja bereits vor sieben bis zehn Tagen erfolgt, sprich, in Wahrheit sind wir auf der steigenden Kurve schon weiter. Ich rechne mit 10.000 Neuinfizierten in Kürze.

Europäische Nachbarländer melden seit Wochen hohe Neuinfektionszahlen. In Frankreich allein stieg die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen auf über 18.000 an einem einzelnen Tag. Steuert Deutschland auf ähnliche Zahlen zu?

Bei uns passiert gerade das Gleiche wie in anderen Ländern Europas. Wir steuern auf deutlich höhere Infektionszahlen zu. Ich schätze, wir liegen zwei Wochen hinter Frankreich in der Entwicklung des Infektionsgeschehens. Und das ist nicht gut – die deutschen Gesundheitsämter in den Hotspot-Regionen sind jetzt schon am Anschlag und kommen mit der Kontaktnachverfolgung nicht mehr hinterher. Daher ist es bei steigenden Zahlen immer schwieriger, die Kontrolle zu behalten. Ich fürchte, das läuft in einigen Städten beziehungsweise regional bereits jetzt aus dem Ruder. Nur schnelles und entschiedenes Gegensteuern wird helfen, die Kontrolle zu behalten.

Virologe Hendrik Streeck mahnt, sich bei der Bewertung der Situation nicht allein auf die reinen Infektionszahlen zu beschränken und fordert, weitere Faktoren zu berücksichtigen, etwa die intensiv-medizinische Belegungsrate oder die Anzahl der Tests, die es braucht, um einen Corona-Positiven zu finden. Sind wir zu stark auf die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen fixiert?

Das sehe ich nicht so – es gibt meiner Meinung nach auch keinerlei Zeit für Entspannung, im Gegenteil, wir müssen erhöhte Wachsamkeit genau jetzt zeigen, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Keinem ist gedient, wenn die Belegung der Intensivbetten wieder ansteigt – weder dem Krankenhaus, weil es elektive (Anm. d. Red.: ausgewählte) Eingriffe wieder verschieben muss, noch dem Pflegepersonal und den Ärzten, noch den Patienten selber. Mal ganz abgesehen von dem akuten Personalmangel in den Kliniken. Ja, wir sind in einer anderen Situation als im Frühjahr, als wir nicht wussten, was auf uns zukommt, als noch keinerlei Therapien zur Verfügung standen. Aber ein Allheilmittel haben wir noch nicht, und das Virus ist auch nicht ungefährlicher geworden. Unser Ziel muss sein, Infektionen so gut wie möglich zu verhindern – und nicht erst zu handeln, wenn die Zahl der belegten Intensivbetten steigt. Die Zahl der Neuinfektionen ist der früheste Indikator, den wir haben – es ist falsch, nicht auf ihn zu sehen, und selbst diese Zahlen zeigen uns schon nur die Vergangenheit von vor einigen Tagen. Dieses ganze Gedankengebäude, man könne ja mehr Infektionen zulassen, solange weniger schwere Verläufe zu verzeichnen sind, ist aus meiner Sicht Unsinn. Erstens werden die schweren Verläufe folgen. Zwar nicht in der Menge wie im Frühjahr im Verhältnis zu den Neuinfizierten, aber sie werden kommen. Zweitens ist es viel einfacher, die Zahl der Neuinfizierten stabil zu halten oder wieder zu senken – und genau das werden wir tun müssen – wenn wir wenig Infektionen haben. Bei höheren Neuinfiziertenzahlen wird es immer schwieriger. Daher wird ein hohes Infektionsgeschehen am Ende gesundheitlich, wirtschaftlich und sozial ein Weg mit vielen Nachteilen und praktisch ohne Vorteile sein.

Das RKI warnt vor einer "unkontrollierten Verbreitung" des Erregers. Sehen Sie dafür bereits erste Anzeichen – abgesehen von der steigenden Zahl der Neuinfektionen?

Das Virus hat sich über die Sommermonate breitflächig verteilen können – und gerade in Hotspot-Regionen wie Großstädten flammen die Infektionen jetzt auf und werden nur mit großem Einsatz bekämpft werden können. Die Bekämpfung eines großen Brandes ist deutlich aufwändiger und mit höheren Kosten verbunden als die Bekämpfung kleiner Brandherde. Und das ist ja genau das, was wir seit Monaten versuchen zu erklären: Unsere Wirtschaft hat nichts davon, wenn wir zu spät handeln, wir müssen Maßnahmen ergreifen, die die Zahl der Neuinfektionen wieder nach unten drücken, so tief, dass die Gesundheitsämter wieder mit der Kontaktnachverfolgung hinterherkommen. Wir müssen ja auch bedenken, dass unsere Gesundheitsämter das bis zum späten Frühjahr durchhalten müssen – im März war es nicht weit bis zum Sommer, aber der ist jetzt noch sehr weit entfernt. Die kommenden Wintermonate werden deutlich schwieriger als die Sommermonate.

Christian Drosten empfiehlt vor Familienbesuchen in diesem Herbst und Winter in eine Art Vorquarantäne zu gehen, in der soziale Kontakte so gut es geht vermieden werden. Ein sinnvoller Ansatz?

Das ist grundsätzlich sinnvoll. Der Gedanke dabei ist ja, dass jeder in sich geht und selber abwägt: Was für Risiken gehe ich ein? Welche bin ich nicht bereit einzugehen? Was ist mir wichtig? Was kann ich selbst tun, um die Wahrscheinlichkeit gering zu halten, dass ich versehentlich jemanden anstecke? Nehmen wir als Beispiel den 80. Geburtstag von Opa, den man im kleinen Kreis feiern möchte. Muss ich davor unbedingt ins Fitnessstudio? Kann ich ein paar Tage von zu Hause arbeiten? Muss ich die Woche davor auf eine Party? Auf jeden Fall sollten wir uns besonders konsequent an die AHA+L Regeln bei Opas Geburtstag halten, auch wenn das im Familienkreis schwerfallen mag. Wir sollten uns einfach Gedanken machen, wo die Risiken besonders hoch sind, sich zu infizieren, und solche Orte/Begebenheiten meiden, wenn wir danach mit älteren Menschen in Kontakt kommen. Und damit meine ich nicht nur die Menschen über 70 – auch bei den über 60-Jährigen sehen wir schwere Verläufe. Und viele unserer Mitmenschen zählen zur Risikogruppe: Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankung, Diabetes. Das ist auch bei vielen Menschen mittleren Alters schon ein Thema. Eine wichtige Regel, die wir unbedingt befolgen müssen, und das fällt oft schwer: Wenn wir Symptome haben, sollten wir soziale Kontakte vermeiden und Treffen verschieben. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.

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