Wie die Pflege der Zukunft aussehen könnte

Herr Isfort, vor welchem Zukunftsdilemma steht die Pflege?

Wir haben rückblickend von 1999 an einen sehr starken Aufbau von ambulanten Pflegestrukturen und stationären Altenpflege-Einrichtungen gehabt. Dieser Zuwachs ist sehr viel größer als die Zahl der Pflegekräfte, die qualifiziert werden. Und diese Schere geht immer weiter auseinander. In zehn Jahren werden die ersten Einrichtungen schließen müssen. Nicht, weil sie keine Pflegebedürftigen haben oder weil sie von der Bausubstanz her gefährdet sind. Sondern weil wir kein Personal haben. Der Personalmangel ist das größte Problem in der Pflege.

Wie kommt es dazu?

Die Frage ist immer: Wo wird ein Beruf gesamtgesellschaftlich verortet? Pflege wurde in den letzten 20 Jahren Stück für Stück im gesellschaftlichen Niveau herabgesetzt. Da stellt sich die Frage: Wer geht dann noch in den Beruf? Die Arbeit einer Pflegekraft wird heute reduziert auf die Tätigkeiten: Essen anreichen, Ausscheidungen kontrollieren, waschen. Jede Pflegekraft weiß, dass diese Aufgaben dazugehören. Aber sie definieren nicht den Job. Einen alten oder kranken Menschen zu pflegen, zu begleiten, spezifische Risiken zu erkennen und Fähigkeiten zu fördern oder möglichst lange zu erhalten, bedeutet sehr viel mehr als die Durchführung einer Tätigkeit. Gleichzeitig werden die Arbeitsbedingungen immer schlechter, viele Pflegekräfte hören auf oder reduzieren ihre Arbeitszeit. Damit kann man natürlich niemanden begeistern.

Die Politik tut so viel für Pflegekräfte wie seit Jahrzehnten nicht. Warum ändert sich trotzdem nichts?

Die Reformen im Gesundheitssystem gleichen einem Reparaturbetrieb. Wir stellen das System nicht neu auf. Sondern wir versuchen ein System zu reparieren, von dem alle wissen, dass es so nicht weiter bestehen kann. Das ist wie mit Verbrennungsmotoren in der Automobilwirtschaft: Solange es geht, soll daran rumgeschraubt werden und geguckt werden, dass es irgendwie funktioniert. Es wird zu viel investiert in die Überlegung: Wie können wir die Versorgung so belassen? Und zu wenig investiert in die Frage: Wohin müssen wir das System entwickeln? Obwohl längst alle wissen, dass die Überlegungen in eine andere Richtung gehen müssen.

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Was schlagen Sie vor?

Ein wichtiger Punkt ist: Pflege-Prävention. Der Begriff steht im Koalitionsvertrag. Aber er wurde bislang nicht flächendeckend umgesetzt. Es wird nicht investiert in die Frage: Wie kann Pflegebedürftigkeit frühzeitig angegangen, vielleicht sogar verhindert werden? Die meisten Menschen wachen nicht morgens auf und sind plötzlich pflegebedürftig. Das ist ein Prozess. Die Frage ist: Können wir durch kluge Konzepte die Pflegebedürftigkeit hinauszögern? Solche Überlegungen gibt es bisher leider kaum. Wir bräuchten zum Beispiel einen deutlichen Ausbau von Quartierskonzepten in der Altenpflege. Der Grundsatz "ambulant vor stationär" hat nicht wirklich gewirkt. Wir brauchen neue Ansätze und gezielte Angebote, um die Menschen zu fördern, damit sie möglichst lange in ihrem häuslichen Umfeld wohnen bleiben können. Das meine ich auch mit Konzeptentwicklung. Wenn es uns nicht gelingt, pflegebedürftige Menschen früher zu identifizieren und sie besser zu unterstützen, dann wird die stationäre Versorgung später viel Geld kosten. Gleichzeitig müssen wir in stationären Einrichtungen Spezialisierungen und Wissen befördern, denn Altenheime werden zunehmend Einrichtungen der Betreuung an Demenz erkrankter Menschen im letzten Lebensabschnitt. Dieser Wandel wird sich weiter vollziehen.

Was müssten die Politiker tun? 

Wir brauchen richtige Innovations- und Entwicklungsprogramme in der Pflege. Dazu gehört auch der Aufbau von akademischem Personal. Personal, das auf den Stationen Innovationen und Veränderungen herbeiführen kann. Mit den bestehenden Konzepten werden wir die Versorgung in den stationären Einrichtungen nicht aufrechterhalten können. Denn in Zukunft wird es immer mehr alte und kranke Menschen geben. Gleichzeitig gibt es bundesweit keine Reserve an Pflegekräften auf dem Arbeitsmarkt.

Auf der anderen Seite kommen die Probleme nicht aus den Einrichtungen selbst, sondern auch aus der marktwirtschaftlichen Orientierung. Vor 20 Jahren hat Deutschland das so gewollt. Heute beschweren wir uns darüber, dass es immer mehr große, private Ketten gibt, deren erstes Ziel es nicht ist, Innovation zu betreiben oder die Versorgung weiter zu entwickeln. Ihnen geht es darum, die Versorgung lukrativ zu halten. Es ist ein fundamentaler Fehler, dass nur in den Erhalt der Versorgung finanziert wird und nicht in die Verbesserung der Situation. Aber da ist bislang kein Politiker rangegangen.

Pflege-Petition – für eine Pflege in Würde


"Am Ende hatte Frieda einfach Glück": Der Pflegekräftemangel gefährdete das Leben meiner Tochter

Wie könnte der Beruf wieder attraktiver werden?

Damit sich Menschen mit einem bestimmten Qualifikationsabschluss für den Beruf interessieren, müssen attraktive Bereiche in den Einrichtungen geschaffen werden. Wir müssen Forschung und Entwicklung intensivieren. Wir müssen Innovationen in starkem Maße fördern. Das sehe ich aktuell noch gar nicht. Pflege muss in der öffentlichen Gesundheitsversorgung eine Rolle spielen, auch in den Schulen. Wenn die Gesellschaft die Arbeit einer Pflegekraft als bedeutsam wahrnimmt, dann werden auch Eltern ihren Kindern zu diesem Beruf raten.

Dafür brauchen wir endlich ein anderes Pflegeverständnis und auch eine breitere Verankerung von Prävention und Community Health Nursing – speziell qualifizierte Pflegekräfte, die Menschen in der Bewältigung des Alltags in den Kommunen unterstützen. Wenn uns das nicht gelingt, werden wir es nicht schaffen, die Versorgung in Deutschland zu sichern und mehr Menschen für den Beruf zu begeistern.  

Über die Aktion:

Es geht um Ihre Kinder, Eltern und Großeltern, um unser aller Zukunft. Wir brauchen gute Pflege. Früher oder später. Deutschland altert schnell, und immer mehr Menschen sind im Alltag auf professionelle Pflege angewiesen. Doch in den Krankenhäusern, Heimen und bei den ambulanten Diensten herrscht ein enormer Pflegenotstand. Überall fehlen Pflegekräfte, weil die Arbeitsbedingungen schwer zumutbar sind und das Gehalt zu niedrig. Wir alle sind davon akut bedroht: Pflegekräftemangel führt zu schwereren Krankheitsverläufen, mehr Komplikationen und Todesfällen. Unsere Politiker:innen finden seit zwei Jahrzehnten keine wirksame Gegenmaßnahme. Es braucht einen ganz großen Wurf, um den Pflegekollaps noch aufzuhalten. Unser Umgang mit dem Thema Pflege entscheidet darüber, wie menschlich unsere Gesellschaft im 21. Jahrhundert bleibt.

Hier können Sie die Pflege-Petition online mitzeichnen.

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