100 nicht gleich 100: Der starre Blick durch die Inzidenz-Brille allein taugt nichts

Beim Corona-Kurs der Regierung stehen die Zeichen auf Notbremse. Bei Inzidenzen höher als 100 sollen betroffene Kreise zurück in den Lockdown. Doch die alleinige Fixierung auf die Inzidenz sei problematisch, kritisieren Münchner Wissenschaftler. Es brauche einen vielschichtigeren Blick.

„Wir werden leider von der Notbremse Gebrauch machen müssen“, hat Kanzlerin Angela Merkel bereits angekündigt. Heißt konkret: Auf dem Stufenplan der Öffnungsstrategie führt die Treppe nicht weiter Richtung mehr Normalität. Stattdessen bedeutet es stehenbleiben.

Über diese Notbremse, bei der Regionen ab 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern innerhalb von 7 Tagen in den Lockdown zurückehren sollen, werden die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder und Bundeskanzlerin Angela Merkel am Montag beraten.

Gesundheitsminister Jens Spahn sagte im Vorfeld: Die steigenden Infektionszahlen könnten bedeuten, dass es vielleicht keine weiteren Öffnungsschritte geben könne, sondern „sogar Schritte rückwärts“ nötig würden.

Aktuell reißen 173 Kreise die kritische 100er-Inzidenz. Die bundesweite Inzidenz stieg auf 99,9.

Altersspezifische Inzidenzen sollten betrachtet werden

​Nach Schwellenwerten von 35 und 50 diskutieren die Politikerinnen und Politiker nun also über die 100. Ebensowenig differenziert wie seit Wochen. Eine Forschergruppe der Ludwig-Maximilian-Universität München (LMU) um die Statistik-Professoren Göran Kauermann und Helmut Küchenhoff kritisiert das. „100 ist nicht gleich 100“ machen sie in ihrem aktuellen Bericht deutlich.

„Wir kommen zum Schluss, dass man die Gesamtinzidenz nicht als ‚das Maß aller Dinge‘ betrachten sollte“, schreiben die Autoren. „So sollten zum einen altersspezifische Inzidenzen betrachtet werden, zum anderen müssen neben den Inzidenzen unbedingt auch andere Größen herangezogen werden, wie etwa der R-Wert, die Hospitalisierungsrate und die Mortalität.“ Gerade auch in Zeiten eines sich ändernden Infektionsgeschehens durch neue Varianten wie B 1.1.7 erscheine ein vielschichtiger Blick auf die Infektion umso gebotener.

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Warum die Inzidenz allein das Infektionsgeschehen nicht adäquat widerspiegelt

Nur auf die 100 zu starren, bringt wenig. Denn erstens zeigt die Inzidenz nur den Teil des Infektionsgeschehens, der durch Tests nachgewiesen ist. Die Münchner Wissenschaftler weisen darauf hin: „Die Dunkelziffer, also der Anteil der Infektionen, die nicht durch Tests nachgewiesen werden, bleibt unberücksichtigt. Dabei beeinflussen sich ändernde Teststrategien gerade diese Dunkelziffer zum Teil stark.“ Sprich, wer mehr testet, findet auch mehr.

Lars Schaade, Vize-Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI), warnt indes: Eine Verschlimmerung der Lage um Ostern, vergleichbar mit der Zeit vor Weihnachten, sei gut möglich. „Dieser Anstieg der Fallzahlen ist real. Nach unseren Daten lässt er sich nicht damit erklären, dass mehr Schnelltests gemacht werden“, betonte er. Die ansteckendere und wohl auch tödlichere Variante B.1.1.7 wird nach RKI-Daten inzwischen in etwa drei von vier Fällen nachgewiesen. CODAG LMU München Inzidenzen (Infektionen pro 100.000) auf einer log-Skala in den unterschiedlichen Altersgruppen in den letzten Wochen Zudem ist die gesamte Inzidenz nicht nach Altersgruppen differenziert. Dies sei problematisch, wenn sich Inzidenzen in einzelnen Altersgruppen ganz unterschiedlich entwickeln und wenn eine Infektion bei Menschen unterschiedlichen Alters eher häufiger oder weniger häufig zu einem schweren Krankheitsverlauf führe.

Das bedeutet: Ändert sich die Dunkelziffer abrupt, weil etwa die Teststrategie verändert wird, sind die Inzidenzzahlen nicht mehr so aussagekräftig – und auch nicht mehr vergleichbar mit den Daten vor einigen Wochen.

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  • R-Wert und Neuinfektionen: Eine Altersgruppe ist problematisch

    Inzwischen sind sich Experten wie Politiker einig: Deutschland erlebt die dritte Welle. Dem stimmen auch die LMU-Statistiker in ihrer Analyse zu Neuinfektionen und R-Wert zu. Dennoch bemerken sie: „Die Dynamik des Anstiegs ist aktuell allerdings nicht so ausgeprägt wie im November. Der entsprechende R-Wert in Gesamtdeutschland liegt aktuell bei 1.08 (Konfidenzintervall 1.06-1.10).“

    Dabei steigen die Neuinfektionen in den Altersgruppen ganz unterschiedlich, wie sie am Beispiel Bayern feststellten. Vor allem die Altersgruppen unter 65 Jahren seien davon betroffen. „In der besonders gefährdeten Altersgruppe von 66 bis 79 ist aktuell keine deutliche Steigerung der gemeldeten Fallzahlen zu erkennen“, schreiben die Wissenschaftler. „Problematisch einzuschätzen ist der Bruchpunkt bei der Altersgruppe über 80 Jahre, der auf einen erneuten Anstieg der Infektionszahlen hindeutet, ausgehend von einem relativ niedrigen Niveau. Hier ist die weitere Entwicklung genau im Auge zu behalten.“   
     
     

    So steht es aktuell um die Hospitalisierungsrate

    Die Münchner Forscher analysierten außerdem die Situation in den Krankenhäusern. Ihr Ergebnis zur aktuellen Lage: „In den meisten Bundesländern gibt es einen stabilen Verlauf der täglichen Neuaufnahmen mit einem Steigungsfaktor, der sich nicht signifikant von 1.0 unterscheidet.“ Auch in Thüringen sei der Verlauf inzwischen auf relativ hohem Niveau stabil. In Bayern, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Bremen-Niedersachsen gebe es einen leichten Anstieg der Zahlen. Dennoch sei „aktuell der Anstieg aber in keinem Bundesland mit der Dynamik im November und Dezember letzten Jahres vergleichbar“. In den beiden Ländern Rheinland-Pfalz und Saarland sinkt die Zahl der Neuaufnahmen.

    Die Ärzteschaft zeigt sich dennoch alarmiert. Die Chefin des Ärzteverbandes Marburger Bund, Susanne Johna, forderte: „Es muss definitiv die vereinbarte Notbremse gezogen werden, da darf es keine Ausnahmen geben.“ Weiter sagte sie der „Neuen Osnabrücker Zeitung“: „Ich rechne ab Ostern mit einer noch kritischeren Lage als zum Jahreswechsel.“ Der Kapazitätspuffer auf den Intensivstationen „wird rasant wegschmelzen“, warnte sie. „Es war unverantwortlich, in die dritte Welle und die Ausbreitung der Mutanten hinein auf diese Art zu lockern. Dadurch droht den Kliniken nun die dritte Extremsituation binnen eines Jahres“, sagte Johna.

    Auch von Intensivmedizinern kommen nachdrückliche Mahnungen. Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz könne ohne Eingreifen sehr schnell auf 200 steigen und zu deutlich höheren Intensivpatientenzahlen führen. „Aus unserer Sicht kann es daher nur eine Rückkehr zum Lockdown vom Februar geben“, sagte der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Gernot Marx, der „Augsburger Allgemeinen“.

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    Mortalität: Aktuell eher Untersterblichkeit zu beobachten

    Eine gute Nachricht liefert der Blick auf die Mortalität. „Man sieht, dass die wochenweisen Übersterblichkeiten im Dezember und Januar abgeklungen sind und aktuell eher Untersterblichkeiten zu beobachten“, schreiben die Münchner Statistiker. „Das heißt im Moment sterben weniger Menschen in den einzelnen Altersgruppen als zu erwarten sind.“ Das schließt auch alle Todesfälle durch oder mit Covid-19 ein. CoDAG@LMU Standardisierte Mortalitätsraten in Deutschland für unterschiedliche Altersgruppen. Die rote/orange Kurve zeigt die Gesamtsterblichkeit 2021/20 in Deutschland. Die blaue/hellblaue Kurve zeigt die Sterbefälle OHNE Covid-19 Bezug. Die grüne Kurve gibt den Mittelwert der Jahre 2016 – 2019 wieder. Die standardisierten Sterblichkeiten der Jahre 2016 – 2019 sind in grau skizziert.

    Konkret zeigen die Analysen:

    • Für die Altersgruppe der 35- bis 59-Jährigen bewegt sich die Sterblichkeit auf dem Niveau von 2020 vor der ersten Welle. ​
    • In der Altersgruppe der 60- bis 79-Jährigen ist im Moment im Vergleich zu den Jahren 2016 bis 2019 eine Untersterblichkeit von mehr als 10 Prozent zu beobachten.
    • Gleiches gilt für die in der zweiten Welle stark betroffene Gruppe der über 80-Jährigen.

    Für die Ü60- und Ü80-Jährigen lasse sich aktuell sogar ein abfallender Trend beobachten.

    Der positive Trend gilt anderen Experten dennoch nicht als Entwarnung. So sieht etwa der Virologe Christian Drosten die Ü50er nun als Risikogruppe für schwere – und auch tödliche – Verläufe von Covid-19.

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