Rätselhafter Spermien-Schwund: Ist die männliche Fruchtbarkeit in Gefahr?

Zahlreiche Studien der letzten Jahre kamen zu dem Ergebnis, dass Männer immer weniger Spermien bilden. Umweltgifte werden als mögliche Ursache diskutiert. Aber was sagen die vorhandenen Daten wirklich aus?

„Spermienzahl bei europäischen Männern um die Hälfte gesunken“, „Werden europäische Männer immer unfruchtbarer?“ oder schlicht „Sperma in der Krise“ – unter solchen Schlagzeilen berichteten Medien vor einiger Zeit über eine Studie, in der Forscher einen massiven Spermienschwund bei Männern in der westlichen Welt konstatierten.

Um mehr als 50 Prozent sei die Zahl und Konzentration der Spermien zwischen 1973 und 2011 gesunken und ein Ende des Spermienschwunds nicht absehbar, berichtete das Team um Hagai Levine von der Hadassah-Hebrew University (Jerusalem/Israel) 2017 im Fachmagazin „Human Reproduction Update“. Eine eindeutige Ursache für die beunruhigende Entwicklung gaben die Forscher nicht an, die Ergebnisse legten aber ihrer Ansicht nach einen Zusammenhang mit dem westlichen Lebensstil und hormonell wirkenden Umweltgiften nahe.

Kunststoffe, Handystrahlen und rauchende Mütter

Die Studie war nicht die erste, die einen Rückgang der Spermienzahl bei Männern feststellte. Seit einigen Jahren gibt es immer wieder Berichte über einen rätselhaften Spermienschwund in vielen Ländern der Welt. Umweltchemikalien, insbesondere hormonell wirkende Weichmacher aus Kunststoffen, auch Handystrahlen oder rauchende Mütter werden als mögliche Erklärungen genannt.

Die Leiterin der eingangs genannten Studie, Shanna Swan von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai (New York), legte kürzlich mit der Veröffentlichung eines Buches zum Thema nach: Wir lebten in einem Zeitalter der reproduktiven Abrechnung, das Auswirkungen auf den gesamten Planeten habe, heißt es darin, gar vom möglichen Ende der Menschheit ist die Rede. Das klingt nicht gut. Aber was ist dran am Spermien-Schwund – ist die männliche Fruchtbarkeit wirklich in Gefahr?

Die „Eine-Million-Euro Frage“

„Wir haben vielleicht eine Veränderung der Spermienzahl, aber einen Schwund gibt es nicht“, sagt Sabine Kliesch vom Centrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie am Universitätsklinikum Münster. „Das bewegt sich alles noch im Normalbereich.“ Systematische Untersuchungen, die nach hohen methodischen Standards die Entwicklung der männlichen Samenqualität prüften, gebe es derzeit nicht. Aus den einzelnen vorhandenen Ergebnissen ließen sich keine allgemeingültigen Schlüsse ziehen.

Die schlechte Datenlage beklagt auch Artur Mayerhofer vom Biomedical Center Munich an der Ludwig-Maximilians-Universität München. „Die Daten, die uns momentan zur Verfügung stehen, sind einfach wackelig.“ Ob es einen echten Rückgang bei der Spermienzahl gebe, sei „die Eine-Million-Euro-Frage“ – beantworten lasse sie sich derzeit nicht.

Typische Schwankung?

Dass der Spielraum bei der Interpretation der vorliegenden Daten groß ist, zeigt eine aktuelle Untersuchung. Darin haben sich Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology (Cambridge) die Daten der aufsehenerregenden Studie aus dem Jahr 2017 erneut vorgenommen – und diese unter einem anderen Blickwinkel analysiert.

Ihr Fazit: Die vorgestellten Zahlen zur Spermienanzahl können genauso gut eine natürliche Schwankung widerspiegeln wie einen Rückgang. Bevor man von einem Ende der männlichen Fruchtbarkeit rede, müsse man einen kausalen Zusammenhang zwischen der Spermienzahl und lebensgeschichtlichen sowie ökologischen Faktoren nachweisen, schreibt das Team um Marion Boulicault im Fachmagazin „Human Fertility“. Und dabei müsse stets die Möglichkeit geprüft werden, dass eine große Bandbreite an nicht-krankhaften Schwankungen für die Spermienzahl typisch ist.

Das Problem mit den Einflussfaktoren

Tatsächlich ist die Spermienanzahl bei Männern eine flüchtige Größe – sie schwankt nicht nur von einem Mann zum anderen, sondern auch bei einem einzelnen Mann, in Abhängigkeit von zahlreichen äußeren und inneren Faktoren. „Wenn ein Mann etwas zwei bis drei Wochen nach einem grippalen Infekt eine Samenprobe abgibt, wird die anders aussehen als eine, die drei Monate später analysiert wird“, nennt Kliesch ein Beispiel.

Auch die Einnahme von Medikamenten, die Ernährung, Stress, Schichtdienste oder schlicht die Karenzzeit – also wie lange ein Mann vor der Abgabe der Probe enthaltsam war – beeinflussten die Zahl der Spermien im Ejakulat. „In Studien werden oft nicht alle diese Einflussfaktoren kontrolliert“, so die Medizinerin, die auch Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Andrologie ist.

Hinzu kommt: Die Bildung von fertigen Spermien aus den Stammzellen im Hoden dauert mehrere Wochen. Auch länger zurückliegende Einflüsse, an die „Mann“ sich womöglich schon gar nicht mehr erinnert, können sich auf die aktuelle Spermienqualität auswirken.

Nicht die Menge macht’s

So ist denn auch die Spannbreite groß bei den Angaben dazu, welche Spermienanzahl „normal“ ist: Zwischen 15 und 259 Millionen Spermien pro Milliliter sind es nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Studie der israelischen Wissenschaftler sank die Spermienzahl bei Männern der westlichen Welt zwischen 1973 und 2011 von 99 auf gut 47 Millionen pro Milliliter. „Das heißt, die Studie von Levine et al. berichtet von einem Rückgang im Bevölkerungsdurchschnitt von ’normal‘ (99 Mio./mL) zu ’normal‘ (49 Mio/ml)“, schreiben die Wissenschaftler um Boulicault in ihrer Neubewertung der Daten. Auch sei die Annahme, dass „weniger Spermien“ gleichbedeutend mit „weniger fruchtbar“ sei, nicht belegt.

Die Zahl der Spermien ist nur eine von mehreren Größen, die über die Fruchtbarkeit eines Mannes entscheiden. Ganz wesentlich sei auch die Beweglichkeit der Spermien, erläutert Kliesch. Denn der Weg Richtung Ei ist beschwerlich: „Die Spermien müssen erst durch den Gebärmutterhals, dann in den Eileiter abbiegen, wo ihnen das Leben richtig schwer gemacht wird: Sie müssen gegen den Strom schwimmen, um zur Eizelle zu gelangen. Ohne eine gute Vorwärtsbeweglichkeit klappt das nicht.“ Dort angekommen, müssen die Spermien auch noch ihre funktionale Intaktheit unter Beweis stellen, also die Eizelle erkennen, mit ihr interagieren und schließlich mit ihr verschmelzen können.

„Es gibt Anhaltspunkte, dass irgendetwas stattgefunden hat“

Die Komplexität des Geschehens hilft zu verstehen, warum auch Männer mit sehr geringer Spermienzahl manchmal Kinder zeugen können – und andersherum Männer mit einer überdurchschnittlichen Anzahl an Spermien manchmal unfruchtbar sind. Und längst sind nicht alle Einflussfaktoren bekannt, die die männliche Fruchtbarkeit beeinflussen.

Und doch: „In der Gesamtheit gibt es Anhaltspunkte dafür, dass irgendetwas stattgefunden hat, was die Fruchtbarkeit womöglich doch beeinträchtigt“, sagt Mayerhofer. Für ein besseres Verständnis brauche es Studien, die auf lange Zeit angelegt sind – 20 bis 30 Jahre – und in denen möglichst viele denkbare Einflussfaktoren berücksichtigt würden. „Aber das kostet sehr viel Geld.“ Auch über das reproduktive Altern des Mannes – also eine womöglich abnehmende Fruchtbarkeit im Laufe des Lebens – sei noch viel zu wenig bekannt.

Anstieg bei künstlichen Befruchtungen

Einen Hinweis auf eine zunehmend unfruchtbare Gesellschaft könnte ein Anstieg bei der Zahl der künstlichen Befruchtungen geben. Und der ist in Deutschland und vielen anderen Ländern tatsächlich feststellbar: Nach Daten des IVF-Registers kamen hierzulande zwischen 1997 und 2018 insgesamt 319.119 Kinder nach einer künstlichen Befruchtung zur Welt. 1997 waren es gerade mal gut 6500, 2010 schon über 13 000 und 2018 mehr als 21 000 Kinder. Bei den Verfahren der künstlichen Befruchtung wird eine Eizelle außerhalb des Körpers mit einer Samenzelle verschmolzen, der entstehende Embryo nach einigen Tagen in die Gebärmutter gesetzt.

Allerdings hat sich in den vergangenen fast 25 Jahren die Erfolgsquote und die Akzeptanz solcher Kinderwunschbehandlungen erhöht, was die Zunahme mit erklären dürfte. Zudem bekommen Paare heute im Schnitt immer später Kinder – mit zunehmendem Alter sinkt aber die Wahrscheinlichkeit, auf natürliche Weise schwanger zu werden. Entsprechend zeigen die Daten des IVF-Registers, dass das Alter der behandelten Paare über die Zeit gestiegen ist: 1997 lag das durchschnittliche Alter der Frauen bei 32 und das der Männer bei 35 Jahren. 2018 waren die Frauen im Schnitt bereits 35, die Männer 38 Jahre alt. „Man kann davon ausgehen, dass sozioepidemiologische Faktoren den Anstieg bei den Kinderwunschbehandlungen eher erklären als eine zunehmende männliche Unfruchtbarkeit“, fasst Kliesch zusammen.

Verdächtige Hoden-Fehlbildungen

Auch eine Häufung von bestimmten Fehlbildungen bei männlichen Neugeborenen könnte auf schädigende Umwelteinflüsse und eine möglicherweise nachlassende Fruchtbarkeit hinweisen. „In skandinavischen Untersuchungen fanden Forscher einen Anstieg von Fehlbildungen, die unter dem Begriff ‚testicular dysgenesis syndrome‘ zusammengefasst werden“, erläutert Mayerhofer. Darunter fallen etwa Hodenkrebs, Entwicklungsstörungen der Harnröhre sowie fehlende oder falsch liegende Hoden. In der Theorie wirken sich die Umwelteinflüsse in diesen Fällen bereits in der Schwangerschaft auf die Söhne aus, etwa wenn die Mütter mit bestimmten Chemikalien in Kontakt kommen.

Schweizer Forscher um Serge Nef von der Universität Genf fanden kürzlich Hinweise darauf, dass eine Belastung schwangerer Frauen mit hormonell wirkenden Chemikalien wie Pestiziden und Weichmachern sowie Schwermetallen die Fruchtbarkeit der Söhne beeinträchtigen könnte. Sie fanden bei den Männern eine geringere Spermienzahl und ein geringeres Samenvolumen. Allerdings stehen auch die Ergebnisse dieser Studie unter Vorbehalt.

So wurde eine Belastung der Mütter nicht gemessen, sondern nur eine mögliche, viele Jahre zurückliegende berufliche Exposition über Fragebögen ermittelt. Die Rekruten gaben zudem nur eine Samenprobe ab – und ob ihre Fruchtbarkeit tatsächlich beeinträchtigt ist, ist derzeit unklar. Das wollen die Forscher der noch laufenden Studie weiter beobachten. Sie prüfen dazu, ob die Teilnehmer innerhalb von zehn Jahren ein Kind zeugen und wenn ja, ob dies auf natürlichem Weg oder per künstlicher Befruchtung geschieht.

Bis die Ergebnisse dieser und vergleichbarer Studien vorliegen, bleibt offen, wie es um die männliche Fruchtbarkeit tatsächlich bestellt ist. Die Annahme, dass die Spermienzahl innerhalb der Bevölkerung innerhalb eines breiten Optimums schwanke und sich dies nur gering auf die Fruchtbarkeit auswirkt, sei derzeit „mindestens genauso plausibel wie die Interpretation, dass ein stetiger Rückgang auftritt“, schreiben die Forscher um Boulicault.

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