Die Epilepsie stoppen



Viele Epilepsie-Patienten scheuen vor einer Operation zurück. Doch eine verbesserte Bildgebung und moderne chirurgische Verfahren können Betroffenen zur Anfallsfreiheit verhelfen

Vor einer möglichen Operation werden die Patienten von Professor Hajo Hamer mittels EEG untersucht

Viel mehr Menschen mit Epilepsie als bisher könnten von einer Opera­tion profitieren. Diesen Schluss lässt eine große internationale Studie zu, die erst vor wenigen Monaten in dem renommierten Fachmagazin New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde. Dabei werteten Forscher die Daten von knapp 10 000 Patienten aus, die sich aufgrund unzureichender Wirkung von Medikamenten einer Operation unterzogen hatten.

Das Ergebnis: 58 Prozent der betroffenen Erwachsenen waren nach dem Eingriff komplett anfallsfrei, bei den Kindern lag die Erfolgsquote sogar noch etwas höher. Für Epileptologen ist das ein Grund mehr, die Möglichkeit ­eines chirurgischen Eingriffs nicht aus den Augen zu verlieren, wenn Medikamente dem Patienten nicht helfen.

Wenn Medikamente nicht wirken, kann eine Operation helfen

"Schätzungsweise sind es etwa zehn Prozent, die von einer Operation profitieren könnten", sagt Professor Hajo Hamer, Leiter des Epilepsiezentrums an der Universitätsklinik ­Er­­­langen. Er meint, wenn zwei Medikamente nicht ausreichen, um Anfälle zu verhindern, sollte ein Patient sich zumindest untersuchen lassen, ob ein Eingriff prinzipiell für ihn infrage ­­kommt.

Das wünscht sich auch Professor Felix ­Rosenow, Leiter des Epilepsiezentrums am Uniklinikum in Frankfurt. Derzeit würden pro Jahr in Deutschland nur 500 Operationen bei dieser sogenannten pharmakoresistenten Epilepsie durchgeführt. Ein sehr geringer Anteil, betrachtet man die gesamte Zahl an Patienten in Deutschland: So befinden sich nach Angaben der Deutschen Epilepsievereinigung rund 500 000 Betroffene in ärztlicher Behandlung.

Die Folgen einer Epilepsie werden oft unterschätzt

Expertenschätzungen zufolge könnten davon mehrere Zehntausend durch eine Operation dauerhaft anfallsfrei werden. Und das ist nach Ansicht von Fachleuten ein wichtiges Ziel, denn epileptische Anfälle werden häufig unterschätzt. Riskant sind vor allem generalisierte Anfälle, die ein regelrechtes Impulsgewitter im ganzen Gehirn auslösen und neben Krampfanfällen auch Bewusstlosigkeit verursachen.

Die Folgen können dramatisch sein. Schätzungen zufolge sterben in Deutschland jährlich zwischen 600 und 1000 Patienten an den Folgen eines epileptischen Anfalls. Die unkontrollierten Nervensignale können beispielsweise Herzrhythmusstörungen verursachen oder die Atemregulation beeinträchtigen.

Dabei gilt die Epilepsie bereits heute als gut behandelbar. Allein durch Medikamente werden zwei Drittel der Patienten dauerhaft anfallsfrei. "Sie sind noch immer der Hauptpfeiler der Therapie", sagt Hamer. Die modernen Arzneien haben die Behandlung in den letzten Jahren deutlich verbessert. "Diese Medikamente wirken zwar nicht besser, sie sind aber viel verträglicher", resümiert der Erlanger Experte.

Hilfe durch einen Wirkstoff aus der Cannabis-Pflanze?

Und die Entwicklung neuer Arzneimittel läuft auf Hochtouren. Mehrere Wirkstoffe werden derzeit klinisch geprüft. Dazu zählen unter anderem auch Substanzen aus der Cannabispflanze. Doch Experten zeigen sich skeptisch: "Es gibt derzeit viel Wirbel um alles, was Cannabis im Namen trägt", sagt Professorin Heidrun Potschka, Pharmakologin an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Vor allem die psychoaktiven Substanzen der Can­­nabispflanze wie zum Beispiel das Tetrahydrocannabinol (THC) könnten wahrscheinlich sogar Anfälle auslösen und womöglich auch die Gehirn­­entwicklung von Jugendlichen negativ beeinflussen, so die Pharmakologin.

Anders verhalte es sich bei dem Inhaltsstoff Cannabidiol, der einen anderen Wirkmechanismus habe. In ersten Studien zu schweren genetisch bedingten Formen von Epilepsie bei Kindern konnte Cannabidiol tatsächlich eine Wirkung zeigen. Derzeit laufen außerdem Studien zur Behandlung anderer Epilepsieformen. "Der Trend geht zur Entwicklung spezifischer Therapien für einzelne Epilepsieformen", weiß Potschka.

Lange Dauer bis zur Diagnose und Therapie einer Epilepsie 

Trotz guter therapeutischer Möglichkeiten dauert es in vielen Fällen oft Jahre, bis die Erkrankung diagnostiziert wird. Und auch Patienten, die auf Medikamente nicht ausreichend ansprechen, werden im Durchschnitt erst 16 Jahre nach dem ersten Anfall operiert. In der Zwischenzeit kann viel passieren: Aufgrund der Anfälle verlieren etliche Epilepsie-Patienten ihren Führerschein, den Job und mitunter auch den Freundeskreis. 

Trotzdem scheuen viele Betroffene den Weg in eine der Epilepsieeinrichtungen, die es bundesweit in vielen Kliniken und Fachzentren gibt, und zögern den Schritt zu einer stationären Diagnostik hinaus – vor allem auch zur Operation. Oft seien es Ängste vor dem Eingriff am Gehirn, meint Experte Hajo Hamer. Lieber ertragen sie die Anfälle. "Viele wissen auch gar nicht, dass es weitere Möglichkeiten gibt, oder sie haben sich schlichtweg an die Situation gewöhnt", ergänzt der Frankfurter Epileptologe Rosenow.

Fortschritte durch verbesserte Bildgebung

Die Ängste der Patienten sind real – auch wenn die Ärzte beteuern, dass die diagnostischen und operativen Möglichkeiten in den vergangenen Jahren besser geworden seien. "Wir können uns heute auch an komplexe Fälle wagen", betont Hamer. Vor allem die Bildgebung habe sich deutlich verbessert.

"Moderne Magnet­reso­nanz-Techniken nehmen viel mehr Schichten auf als üblich, Spezial­sequenzen ermöglichen eine detailliertere Sicht auf das Gehirn", erklärt Felix Rosenow. So erkennen Epileptologen oft schon auf dem MRT-Bild kleine Veränderungen, die für die Anfälle verantwortlich sein können.   

Um niedergelassene Neurologen in entlegeneren Regionen bei der Diagnostik zu unterstützen, arbeitet Rosenow an einem mit Fördergeldern hessischer Ministerien unterstützten Telemedizin-Projekt: Der behandelnde Arzt schickt ­Patientendaten und MRT-Bilder an die Spezialisten der Frankfurter Uniklinik. Per Videokonferenz tauschen sich die Mediziner anschließend untereinander aus und entwickeln ein schlüssiges Behandlungskonzept für den Betroffenen.

Vor einer Operation wird der Patient genau untersucht

Endgültige Klarheit, ob eine Operation für den Patienten tatsächlich infrage kommt, kann aber letztlich nur eine Untersuchung in einem Epilepsiezentrum schaffen. Dort wird er für ein Elek­troenzephalogramm (EEG) verkabelt – eine Vielzahl von Elektroden auf dem Kopf nehmen die Nervensignale aus dem Gehirn auf und senden sie per Funk in die Zentrale.

So ausgerüstet, warten die Mediziner auf einen epileptischen Anfall. Zusätzlich wird der Patient rund um die Uhr per ­Videokamera überwacht. Im Nebenraum flimmern die Bilder über Monitore: Für den Arzt kann ­jede Bewegung, jede Regung des Gesichts und der Augen während eines Anfalls wichtige Informationen darüber liefern, in welcher Region des Gehirns die Epilepsie beginnt. Das ist die Voraussetzung für eine mögliche chi­rurgische Therapie.

Um einen Anfall hervorzurufen, müssen manche Pa­tienten für die Dauer des Aufenthalts ihre Epilepsiemedikamente absetzen. Reichen die EEG-Daten nicht aus, weil die Auflösung zu schwach ist, können die Elektroden auch in einem operativen Eingriff für die Dauer der Untersuchung unter die Schädel­decke implantiert werden. "Solche Tiefenelektroden werden heute häufiger eingesetzt", erklärt Experte Hamer. Eine neurophysiologische Untersuchung ermittelt schließlich, ob ein Eingriff geistige oder körperliche ­Fähigkeiten verändern würde. So versuchen die Mediziner, das Risiko eines Eingriffs auf ein Minimum zu reduzieren.

Chirurgische Verfahren bei Epilepsie


Resektion

In den meisten ­Fällen entfernt der Neuro­­chi­rurg die fehlerhaften Gehirn­bereiche, von denen die Epilepsie-Signale ausgehen. "Oft sind das sklerotische Veränderungen im Temporallappen", erklärt Professor Hartmut Vatter, Neurochirurg an der Uniklinik Bonn.

Dazu öffnet der Chirurg unter Vollnarkose die Schädeldecke im Schläfenbereich, navigiert mit einem Spezialinstrument zu dem Bereich, den der Epileptologe als Herd identifiziert hat, und entfernt das schadhafte Gewebe mit Ultraschall, Mikrosaugern oder einer stromdurchflossenen Pinzette.  

Durchtrennung

"Hat man das Areal identifiziert, muss man es nicht immer unbedingt herausschneiden", sagt Vatter. Manchmal genüge es, die Nervenverbindungen zum Rest des Gehirns zu durch­trennen. Das sei aber nicht in allen Fällen möglich. 

Tiefe Hirnstimulation

Stimulationsverfahren verfolgen ein anderes Ziel: Mithilfe von Elektroden sollen elektrische Impulse die Aktivität von Nervenzellen im Gehirn beeinflussen. Bei der tiefen Hirnstimulation implantiert der Neurochirurg einen Stimulator unter das Schlüsselbein. Die Elektroden setzt er in tiefe Bereiche des Gehirns, den Thalamus. Im Gegensatz zur Resektion können Anfälle bei den meisten Patienten aber nicht verhindert, sondern allenfalls reduziert werden.  

Vagusstimulator

Die Einschränkung gilt auch für die Nervus-vagus-Stimulation. Die Elektrode wird dabei im Halsbereich am Vagusnerv befestigt. Dieser Nerv verbindet den Hirnstamm mit zahl­reichen inneren Organen.

Mediziner vermuten, dass die Schrittmacher-Impulse hemmende Nervenzellen aktivieren. "Die Vagusnerv-Stimulation eignet sich dann, wenn kein Herd gefunden werden kann oder wenn der Patient keinesfalls am Gehirn operiert werden möchte", so Vatter.

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