EU beschließt neue Regeln für Acrylamid



Die krebs­erregende Substanz steckt in vielen Lebensmitteln. Seit April gibt es daher eine EU-Verordnung, die Verbraucher vor zu viel Acryl­amid schützen soll. Doch es gibt auch Kritik an den festgelegten Grenzwerten

"Vergolden statt verkohlen": Toastbrot sollte man knusprig, aber nicht schwarz werden lassen

Lange war es um das Thema still geworden. In der Öffentlichkeit zumindest. Hinter den Türen von Behörden und Labors aber ist Acrylamid nie in Vergessenheit geraten. Nun hat sich auch die EU mit der krebsauslösenden Substanz befasst. Seit dem 11. April gilt ihre Verordnung, die Lebensmittelherstellern konkrete Maßnahmen vorschreibt, damit Verbraucher möglichst wenig Acrylamid zu sich nehmen. 

Zur Erinnerung: Im Jahr 2002 hatten schwedische Forscher den Stoff eher durch Zufall erstmals in Lebensmitteln gefunden. Industriell wird er zum Beispiel zur Kunststoffherstellung oder als Saugmittel in Windeln eingesetzt. Doch die Forscher hatten keinen Chemie­skandal aufgedeckt: Acrylamid entsteht beim Backen, Braten und Frittieren von Kartoffel- und Getreideprodukten sowie beim Rösten von Kaffee oder Kakao.

Je höher die Temperatur, desto mehr Acrylamid

Es ist ein Nebenprodukt der Reaktion, die etwa Bratkartoffeln die braune Kruste verleiht und Toastbrot knusprig macht. Es steckt in Keksen, Waffeln, Lebkuchen, Chips, Brot und vielen anderen Nahrungsmitteln. Acrylamid entsteht, wenn Lebensmittel den natürlichen Eiweißbestandteil Asparagin sowie Zucker enthalten und bei höheren Tempera­tu­ren zubereitet werden.

"Ab etwa 120 Grad steigt der Gehalt konstant an, bei etwa 160 bis 170 Grad nimmt er aber sprunghaft zu", erklärt Professor Alfonso Lampen, Leiter der Abteilung Lebensmittelsicherheit beim Bundesinstitut für Risikobewertung in Berlin. Mit der Menge steigt auch das Krebs­risiko. Das wurde nicht an Menschen gezeigt, sondern an Nagetieren. In einigen Studien versuchten Forscher, den Acrylamid-Konsum von Menschen mit der Häufigkeit von Krebs­­erkrankungen in Verbindung zu setzen. Doch die Ergebnisse wider­sprechen sich – wohl weil solche Untersuchungen fehleranfällig sind.

Krebserregend: Acrylamid verändert das Erbgut

Aber lässt sich das Risiko für Ratten auf Menschen übertragen? Denen, die das bestreiten, erteilt Lampen eine Absage. Er macht das fest an Zwischenprodukten, die sich bei Tieren wie bei Menschen im Blut nachweisen lassen: Acrylamid wird zunächst in der Leber umgebaut, das Reaktionsprodukt heftet sich dann an die Erbsubstanz DNA, "und zwar sehr fest", wie Lampen sagt. Die gebundene Sub­stanz kann die Bausteine des Erbguts verändern. Damit hat sie das Potenzial, Krebs zu verursachen. 

Außerdem kommen Menschen mit den Mengen Acrylamid, die sie zu sich nehmen, relativ nah an jene Konzentration heran, die bei Tieren Krebs verursacht. "Deshalb ist eine Minimierung dringend nötig", betont Lampen. Denn während der Gehalt von Acrylamid etwa in Chips oder Keksen kurz nach seiner Entdeckung gesenkt wurde, kamen weitere Maßnahmen zur Reduktion praktisch zum Stillstand. 

Strengere Regeln für große Hersteller und Fast-Food-Ketten

Das hat die EU-Kommission bewogen, den Herstellern strengere Regeln vorzugeben. Das EU-Parlament und der Ministerrat stimmten zu, im April trat die neue Verordnung EU-weit in Kraft. Sie differenziert zwischen großen Herstellern, Fast-Food-Ketten und kleinen Bäckereien, Gaststätten oder Imbissbuden – wobei die Zuordnung in manchen Fällen noch offen ist – und macht der Branche unterschiedlich strenge Vorgaben.

So soll man Kartoffelsorten wählen, die wenig Acrylamid bilden. Zudem dürfen die Knollen nur eine bestimmte Zeit und nur bei mehr als sechs Grad gelagert werden. Die zur Herstellung von Pommes frites geschnittenen Streifen müssen vor dem Vertrieb in Wasser eingelegt oder blanchiert werden.

Sogar die Temperatur des Frittieröls wird vorgeschrieben – und vieles mehr. Bei Kleinbetrieben sind die Vorgaben insgesamt weniger streng. Vor allem müssen sie ihre Produkte nicht analysieren lassen.

Kritik an der Höhe der Acrylamid-Grenzwerte

Es gibt keinen Minimalwert, bei dem Acrylamid mit Sicherheit unbedenklich ist. Deshalb gelten für die erlaubten Mengen statt Grenzwerten sogenannte Richtwerte. Sie geben ein Maß an, das sich "vernünftigerweise" technisch erreichen lässt, ohne etwa den Geschmack des Lebensmittels zu sehr zu verändern. Das wiederum ist natürlich Auslegungssache.  Deshalb orientiert sich der Richtwert an Messdaten von Behörden und Unternehmen. Er liegt etwas unterhalb des höchsten Messwerts des jeweiligen Lebensmittels.

Stattdessen hätte die EU wenigstens den Mittelwert als Messlatte nehmen sollen, finden dagegen Verbraucherschützer. Die Werte können zudem aus saisonalen, geografischen und anderen Gründen schwanken, so eine Sprecherin des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittel­sicherheit. Andere Experten meinen allerdings, bei konstanten Herstellungsbedingungen sei die Schwankungsbreite nicht besonders groß.  

Acrylamid lässt sich nicht ganz vermeiden

Zu lasch oder zu großzügig, das ist der übliche Streit zwischen Verbraucherschützern und Herstellern. Erstere kritisieren, dass die Bäckerei oder die Gaststätte keine Analysen vornehmen muss. Der Hotel- und Gaststättenverband ist froh darüber, er findet die ganze Verordnung unnötig. 

Die Verbraucher sind durch die Verordnung künftig besser geschützt. Sie können aber auch in der eigenen Küche viel für ihren Schutz tun (siehe unten). Ganz vermeiden lässt sich Acrylamid bei normaler Ernährung nicht. Und wer gerne mal eine Tüte Chips vertilgt, muss sich keine Sorgen machen. Der beste Tipp für eine möglichst geringe Belastung: auf dem Speisezettel und auch beim Naschen für Abwechslung sorgen.

Ernährungs-Tipps: So können Sie Acrylamid reduzieren 

Es gibt auch in der eigenen Küchen einige Tipps, um die Bildung von ­Acryl­­amid zu vermindern. Die wichtigste Regel: Im Zweifelsfall lieber kochen statt braten, backen oder frittieren – denn dabei entseht kein Acrylamid. Ansonsten gilt die ­Devise ­"vergolden statt verkohlen" – ob beim Toastbrot oder bei Pommes frites.

  • Beim Frittieren sollte die Öltemperatur maximal 175 Grad betragen. Messen lässt sich das mit einem Thermometer aus dem Fachhandel; die Anzeige der Fritteuse ist meist weniger genau.
  • Den Korb entnehmen, wenn die Pommes frites goldfarben sind.
  • Größere Fritten sind günstiger, weil Acrylamid vor allem an der Oberfläche entsteht. Dasselbe gilt beim Backen von Weihnachtsplätzchen.
  • Kartoffeln nur vorgekocht anbraten, bis sie goldgelb sind.
  • Rohkartoffeln dunkel, aber nicht im Kühlschrank lagern.
  • Unreife, beschädigte, grünfleckige oder keimende Kartoffeln nicht verwenden.
  • Wenn es mal Kartoffelchips sein sollen, dann eher helle. Man sollte sie ohnehin sparsam ­verzehren – auch weil für sie sehr hohe Acrylamid-Mengen erlaubt sind.
  • Die Backtemperatur sollte ohne Umluft maximal 200 Grad, mit Umluft höchstens 180 Grad betragen. Für Plätzchen besser 10 Grad weniger. Backpapier verwenden.
  • Feuchte Lebkuchen enthalten weniger Acrylamid als sehr trockene.
  • Getreide bildet unterschiedlich viel Acrylamid. Mais und Reis haben am wenigsten, es folgen Weizen, Hafer und Roggen in aufsteigender Reihenfolge.
  • Beim Weißbrot sollte auch die Kruste hell sein.
  • "Vergolden statt verkohlen" gilt auch für aufgebackene Brötchen und Toastbrot.
  • Auch Schokolade kann wegen des ­ge­rösteten Kakaos Acrylamid enthalten.
  • Bei Kaffee Arabica- anstelle von Robusta-Bohnen wählen, keinen Instant- oder ­Zichorienkaffee.
  • Zum Frühstück besser Haferflocken als Cornflakes und andere Cerealien essen. 

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