Was dir keiner sagt, wenn du plötzlich viel Gewicht verlierst

Ich stand mit meiner Mutter in einer Umkleidekabine des Kinderbekleidungsgeschäfts “Limited Too” in Miami.

“Du tust mir weh”, sagte ich zu ihr, als sie versuchte, meinen Körper in ein T-Shirt mit einer Amerika-Flagge zu quetschen. Es war bereits die größte Kleidergröße, die in dem Laden verkauft wurde. Meine Mutter wollte mir einfach nur helfen.

In der dritten Klasse wälzte ich stundenlang die Kataloge von “Limited Too”. Ich wünschte mir nicht nur sehnsüchtig eines der bauchfreien Bandana-Oberteile im Boho-Chic, sondern ich träumte auch davon, den passenden Körper dafür zu haben.

Meine Mutter hatte mir das Amerika-Shirt für eine patriotischeSchulveranstaltung gekauft, bei der wir statt unseren khakifarbenen Schuluniformen ausnahmsweise die Farben Rot, Weiß und Blau tragen sollten. Am Ende zog ich dann aber doch irgendetwas anderes an.

Nachdem ich meine komplette Kindheit in einem übergewichtigen Körper verbracht hatte, gelang es mir mit Anfang 20 endlich, knapp 40 Kilogramm abzunehmen. Es passierte zu einem Zeitpunkt, an dem ich dachte, dass ich bereits alles versucht hätte.

Zunächst wandte sich mein Leben zum Besseren

Das behauptete ich damals zumindest immer gegenüber meinem Freund, derständig Kommentare über die Attraktivität anderer Frauen abließ, die schlanker waren als ich. Er versicherte mir immer wieder, dass es eigentlich nur um Thermodynamik ginge und dass ich Gewicht verlieren könne, wenn iches nur “wirklich wollen” würde. In dem passiv-aggressiven Versuch, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, aß ich irgendwann überhaupt nichts mehr. (Habe ich eigentlich schon erwähnt, wie gesund diese Beziehung war?)

Als meine Pfunde plötzlich zu purzeln begannen, musste ich zugeben, dass er recht gehabt hatte. Doch angesichts meines neuen Körpers hatte letzten Endes doch ich gewonnen. Zumindest sah ich das damals so. Durch den Gewichtsverlust hat sich mein Leben auf vielerlei Weise zum Besseren gewendet. Mein erhöhter Blutdruck und mein Ruhepuls begannen sich zu normalisieren und erreichten irgendwann sogar sportliche Werte.

Außerdem entdeckte ich meine Leidenschaft für schwere Bergwanderungen und fürs Gewichtheben. Nachdem ich so viel überschüssiges Körperfett verloren hatte, begann ich auch, mich im Bett so richtig auszutoben. Ich war berauscht davon, dass ich plötzlich permanent die Aufmerksamkeit von Männern auf michzog. Denn danach hatte ich mich schon so lange gesehnt.

Die Männer liebten meinen neuen Körper

Innerhalb von einem halben Jahr probierte ich meinen neuen Körper mit sechs verschiedenen Partnern aus. Zuvor hatte ich in den vier Jahren, nachdem ich meine Unschuld verloren hatte, gerade einmal mit zwei Männern geschlafen.

Ich habe diesen “neuen” Körper jetzt seit fast 5 Jahren. Inzwischen ist mir jedoch auch klar geworden, welche weniger unmittelbaren und auch nicht so schönen Folgen ein solch massiver Gewichtsverlust mit sich bringenkann.

Abzunehmen ist in der Umsetzung zwar schwierig, in der Theorie jedoch ganz leicht: Man muss einfach nur weniger zu sich nehmen, als man verbrennt. In der Realität erfordert dies natürlich einen wahnsinnigen Aufwand. Außerdem können Diäten dauerhafte Auswirkungen auf die Psyche haben.

In dem Netflix-Film “To the Bone” wird einer von Lily Collins gespielten Anorexie-Patientin vorgeworfen, dass sie am “Kalorien-Asperger-Syndrom” leide. Und obwohl man mich bestimmt nie für magersüchtig halten wird, verstehe ich das sehr gut. Wenn ich Essen sehe, denke ich nicht mehr einfach nur an Nahrung, sondern an bestimmte Zahlen.

Und dann kommen die Fress-Anfälle

Ich überlege mir, wie viele Kalorien und Kohlehydrate enthalten sind und wie lange ich trainieren muss, um diese wieder zu verbrennen. Ich kontrolliere nach wie vor jeden einzelnen Bissen, den ich zu mir nehme. Dazu gehören sogar Kaugummis und Mineralwasser. Ich verbringe fast jeden Tag zwei Stunden imFitnessstudio. Ich halte mich an strenge und relativ willkürliche Essensvorschriften. Manchmal bekomme ich spätabends extreme Essanfälle.

Und obwohl ich dann nur Lebensmittel zu mir nehme, die in meinen Augen “erlaubt sind”, kann es trotzdem passieren, dass ich auf einen Schlag 2.000 Kalorien verspeise. Ich verschlinge dann beispielsweise ein halbes Pfund Mandeln oder eine ganze Packung Protein-Riegel. Am nächsten Tagversuche ich, den Ausrutscher wieder gutzumachen, indem ich den Crosstrainer auf die höchste Stufe stelle, um alles sofort wieder zu verbrennen.

Dieses Verhalten hört sich vielleicht nach einer Essstörung an. Und es kann durchaus sein, dass ich tatsächlich ein Problem habe. Ich gebe selbst oft halb im Scherz zu, dass ich an Sport-Bulimie leide. Auf einer Skala von 1 bis 10 würde ich mich ungefähr bei Stufe 3 einordnen.

Viel schlimmer ist jedoch noch, dass ich bisher nur noch nicht mit einer Essstörung diagnostiziert worden bin, weil ich eine unglaubliche Angst davor habe, mir Hilfe zu suchen. Für mich ist es viel leichter, einfach so weiterzuleben wie bisher. Ich mag mein gestörtes Essverhalten.

Ich mag das Gefühl der Kontrolle

Ich mag das Gefühl von Kontrolle, das es mir zu geben scheint. Auch wenn ich es offensichtlich so gar nicht mehr unter Kontrolle habe. Das Problem ist das Gefühl von Macht, das mein Essverhalten mir vermittelt. Ich erlebe dieses Gefühl, wenn ein Mann seinen Kopf aus dem Lastwagenfenster steckt und sagt: “Meine Dame, sie sehen absolut großartig aus ― nur falls Ihnen das heute noch niemand gesagt haben sollte.”

Oder wenn ein Mann vor mir auf dem Gehweg auf die Knie fällt und seine Hände wie zum Gebet in den Himmel hebt. Und wenn ein Mann in einem Café auf meine überschlagenen Beine schaut und mich fragt, ob ich Tänzerin bin.

Darüber hinaus genieße ich auch viele praktische Vorteile. Zum Beispiel, wenn ein Mann an der Kasse mich hinter der Glaswand schüchtern anlächelt und nach einem freien Platz für mich sucht, obwohl die Vorstellung bereits ausverkauft ist. Oder wenn ich wieder einmal mit einer einfachen Verwarnung davonkomme, obwohl ich zu schnell gefahren bin.

Dass ich mich in diese Richtung entwickelt habe, liegt mitunter daran, dass man mir früher in unmissverständlichen Worten klargemacht hatte, dass ich eklig war. In der Highschool war ich das Mädchen, das die Jungs in ihren Mutproben küssen mussten. Sie taten das, weil sie allein die Vorstellung davon fürunglaublich lustig hielten.

Frauen tun so viel aus Angst um ihre Schönheit

Wenn einer der Jungs mich küsste, begann mein Herz wie wild zu flattern, weil ich mich so sehr nach Aufmerksamkeit gesehnt hatte. Das Leben nun von der anderen Seite aus betrachten zu können, ist atemberaubend und unvorstellbar.

“Die ganze Welt legt sich schönen Frauen zu Füßen”, hatte ich einmal in mein Tagebuch geschrieben. Ich war mir dabei jedoch noch immer nicht so ganz sicher gewesen, ob ich dieses Adjektiv denn überhaupt verdiente.

Das Problem ist, dass einem erst viel zu spät bewusst wird, warum man sich eigentlich so sehr nach dieser Art von Aufmerksamkeit gesehnt hat. Die Wahrheit ist, dass in unserer Kultur der Wert einer Frau extrem stark von ihrem äußerlichen Erscheinungsbild abhängt. In unserer Kultur erfahren Frauen, dass sie nur dann etwas wert sind, wenn sich auch ihr Körper gut verkaufen lässt.

Das Problem ist jedoch, dass Frauen unter diesen Umständen alles tun, um die aufgewertete Version von sich selbst erhalten zu können. Durch die Angst um meine momentane Schönheit ― oder genauer gesagt die Angst davor, diese zu verlieren ― lasse ich mich in einen Käfig sperren. Ich verbringe mein Leben damit, Kalorien zu zählen und auf dem Stepper zu trainieren. Dieses Leben ist jedoch überhaupt nicht so, wie ich es mir früher einmal ausgemalt hatte.

Das Leben als schlanke Frau ist nicht so toll wie ich dachte

Ich erinnere mich daran, dass ich den hübschen, schlanken Mädchen dabei zugeschaut hatte, wie sie mittags wunderbarerweise Pizza und Pommes essen konnten, ohne offensichtliche Konsequenzen tragen zu müssen. Ich stellte mir ihr Leben wie eine einzige Party vor: Sie wurden permanent angeflirtet und konnten darüber hinaus auch noch ohne jegliche Reue die feinsten Leckereien genießen.

Als ich dann jedoch einen ebenso schlanken Körper wie diese Mädchen bekam, blieb mir dieser unbeschwert wirkende Lebensstil versagt. Denn ich war zur Sklavin meiner neuen Schlankheit geworden, die ich jederzeit wieder verlieren konnte. Alkohol hat viel zu viele Kalorien. Und da ich bereits frühmorgens wie verrückt im Fitnessstudio trainiere, bin ich auch viel zu müde, um abends auszugehen.

Außerdem bin ich ein introvertierter Mensch, der zu Suchterkrankungen neigt. Deshalb bleibe ich abends meist zuhause und lese Bücher oder mache Kreuzworträtsel. Ich empfinde mein gutes Aussehen als schwindende Ressource. Ich fühle mich wie eine Lampe, dessen allmählich immer schwächer werdendes Licht ich verschwende.

Ständig überprüfe ich mein Gewicht

Der vielleicht überraschendste Aspekt an meinem enormen Gewichtsverlust ist jedoch der, dass ich noch immer mit mir zu kämpfen habe. Ich habe so viel geleistet und mich wahnsinnig angestrengt. Doch obwohl ich so viel getan habe, um das Gegenteil zu erreichen, verbringe ich noch immer viel mehr Zeit damit, meinen Körper zu hassen, als ihn zu lieben.

Ich drücke und quetsche vor dem Spiegel an meinem Gesicht herum. Ich ziehe die Haut an meinem Kinn zurück und kontrolliere, ob meine Schönheit noch intakt ist ― wenn sie das denn überhaupt jemals war. Ich habe die vergangenen fünf Jahre in der Überzeugung und Angst gelebt, dass ich das ganze Gewicht jeden Augenblick wieder zulegen könnte.

Dieser Artikel wurde verfasst von Jamie Cattanach

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